Kettensägen-Massaker oder Geniestreich? An der Politik des selbst ernannten Anarchokapitalisten Javier Milei scheiden sich die Geister. Während sich der libertäre Präsident auf dem Weg zum Gewinn des Wirtschaftsnobelpreises wähnt, wissen immer mehr Menschen in Argentinien nicht, wie sie sich und ihre Liebsten ernähren sollen.
Im Wahlkampf war die Kettensäge sein Markenzeichen:
Milei, dessen ungekämmte Haarpracht ihm den Spitznamen "La Peluca" ("Die Perücke") einbrachte, positionierte sich frühzeitig als Gegenentwurf zum politischen Establishment. In 16 der vergangenen 20 Jahre vor Mileis Amtszeit wurde Argentinien von Politikern des Peronismus regiert, einer Ideologie, die auf den Ideen des ehemaligen Staatschefs Juan Domingo Perón basiert und etwa einen starken – und entsprechend teuren – Sozialstaat beinhaltet. Das Land geriet in dieser Zeit zunehmend in die Krise. Hohe Inflation, gestiegene Armut, Perspektivlosigkeit: Insbesondere Wähler aus der Mittelschicht wollten den Wandel, den Milei ihnen versprach.
Milei verschlankt den Staat – und zwar radikal
Im November 2023 gewann "El Loco" ("Der Verrückte"), wie er von Medien und politischen Gegnern genannt wird, die Stichwahl gegen seinen peronistischen Konkurrenten Sergio Massa; einen Monat später folgte seine Vereidigung. Es dauerte nicht lange, bis das neue Staatsoberhaupt die angekündigte "Schocktherapie" in die Tat umsetzte: Milei verschlankte den Staat, schaffte umgehend die Hälfte der Ministerien ab und entliess im April rund 15.000 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst.
Ein drastischer Schritt – in Teilen auch ein notwendiger? "Die Regierung um Javier Milei hat systematisch aufgerollt, welche Korruptionsnetzwerke es unter den Vorgängerregierungen in den staatlichen Organisationen gegeben hat", sagt Susanne Käss, Leiterin des Auslandsbüros Argentinien der Konrad-Adenauer-Stiftung im Gespräch mit unserer Redaktion. "Da ist einiges ans Licht gekommen. Ich habe noch nie ein Land erlebt, in dem Korruption staatlich so institutionalisiert war wie hier."
Milei, der die Bevölkerung frühzeitig auf harte Zeiten eingestimmt hat, aus denen eine glorreiche Zukunft erwachsen werde, kürzte zahlreiche Subventionen, darunter für Gas, Strom und Benzin sowie im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich. Soziale Organisationen wie Suppenküchen erhielten keine Unterstützung mehr, zudem wurden öffentliche Bauaufträge gestoppt und Rentenerhöhungen per Veto ausgebremst.
Seine radikalen Massnahmen trugen dazu bei, dass die zuvor hohe Inflation deutlich abgeschwächt wurde. "Das Schockmodell, das Milei implementiert hat, hat zunächst sichergestellt, dass das Land wieder einigermassen finanziell tragfähig wurde", analysiert Günther Maihold vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin die Situation im Gespräch mit unserer Redaktion. Auch Käss sagt: "Es gibt viele Wirtschaftsexperten, die sagen, dass die makroökonomischen Sanierungen unausweichlich gewesen sind."
Armutsquote steigt in Argentinien auf über 50 Prozent
Doch mit welchen sozialen Folgen? Die neue Regierung wertete den Argentinischen Peso im Dezember 2023 um mehr als die Hälfte ab, die Lebenshaltungskosten stiegen stark an, der Konsum brach massiv ein und die Armutsquote erhöhte sich im Land um mehr als elf Prozent auf 52,9 Prozent, wie etwa der "Spiegel" berichtet.
Die Armut ist auf den Strassen des Landes allgegenwärtig. Käss, die in Buenos Aires lebt, berichtet von Schicksalen, die sie jüngst beobachtete: Wie ein Vater seine zwei Kleinkinder in einen Müllcontainer hob, damit sie in diesem nach etwas Essbarem suchen. Wie in einer Bäckerei eine ältere Dame nach dem Preis für ein Gebäck fragte und nach der Antwort der Verkäuferin in Tränen ausbrach, weil sie sich dieses nicht mehr leisten konnte. Käss macht dafür allerdings nicht Milei allein verantwortlich, denn auch während der peronistischen Regierungen habe sich die Armutsquote trotz ansteigender Sozialausgaben deutlich erhöht.
Die Unterstützung schwindet allmählich
Dennoch stellt die anwachsende Armut auch für Milei ein gravierendes Problem dar, da vor allem seine Unterstützerinnen und Unterstützer davon betroffen sind. Die Zustimmungswerte für den Präsidenten sind laut "Redaktionsnetzwerk Deutschland" um rund zehn Prozent gesunken. Für Mileis politische Zukunft ist es entscheidend, den Rückhalt der Mittelschicht nicht zu verlieren.
Diese habe ihn gewählt, "weil sie es überdrüssig war, mit Nichtlösungen und dem Fortschreiten der Krisensituation durch die Vertagung notwendiger Reformen zu leben", sagt Maihold. Milei müsse sie weiterhin davon überzeugen, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist und eine Rückkehr zum Peronismus keine Alternative darstellt.
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Doch im Hier und Jetzt fehlt vielen Argentiniern das Geld – und damit eine echte Perspektive. "Kleine Familienunternehmen, die energieintensiv gearbeitet haben, sind pleitegegangen", sagt Käss. "Die grosse Frage ist: Wird es diese Regierung schaffen, eine schnelle wirtschaftliche Erholung so einzuleiten, dass die Armutswerte wieder sinken und die Bevölkerung die Auswirkungen dieser Politik, die aus makroökonomischer Sicht sicherlich richtig ist, auch zu spüren bekommt?"
Auch Maihold benennt als gewichtiges Problem, dass Mileis Politik lediglich auf makroökonomische Effekte ausgerichtet ist und die Mikroökonomie völlig ausser Acht lässt. "Milei setzt auf die Initiative der Unternehmerschaft, die er als 'neue Helden' darstellt. Die freien Kräfte des Marktes würden dann schon die notwendigen Dynamiken erzeugen. Insbesondere für Klein- und Mittelindustrien benötigt es aber Impulse", betont der Politikwissenschaftler.
Milei spricht vom Nobelpreis
Der Präsident selbst ist von seinem Kurs ungeachtet der sichtbaren Probleme überzeugt. Bei einem Besuch in Prag im Juni sagte er laut "Redaktionsnetzwerk Deutschland", dass er zusammen mit seinem Chefberater Demian Reidel Wirtschaftstheorie neu schreibe und sie bei erfolgreichem Ausgang den Wirtschaftsnobelpreis erhalten werden.
Maihold sieht nach den ersten zehn Monaten von Mileis Präsidentschaft allerdings nachhaltige Schäden. "Die gesellschaftliche Spaltung wird sich weiter fortsetzen. Es gibt Konflikte in den Familien, dort wird nicht mehr über Politik gesprochen. Durch Mileis konfrontative Diskurse wird dies weiter vorangetrieben. Das wird das Zusammenleben und das Finden von gemeinsamen Lösungen immer schwieriger machen", sagt der Politikwissenschaftler.
Richtungswahl im kommenden Jahr
Mittlerweile befindet sich Argentinien im nächsten Wahlkampf. Im Oktober 2025 werden ein Drittel der Sitze im Senat und fast die Hälfte der Sitze im Abgeordnetenhaus neu verteilt. Für Milei ein wichtiges Datum, denn aktuell ist seine Partei, La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran), in diesen beiden Kammern kaum vertreten, sodass der Präsident auf Pakte mit der politischen Kaste angewiesen ist.
"Dafür, dass Milei eine schwache Stellung im Parlament hat, hat sich die Opposition erstaunlich wenig gegen ihn positioniert", merkt Käss an. "Das liegt auch daran, dass man im Peronismus gar nicht unglücklich darüber ist, dass jemand die unangenehmen, aber unausweichlichen Reformen durchführt und man dann vielleicht ein saniertes Land übernehmen kann."
Bis es so weit ist, muss die politische Konkurrenz bis zum Jahr 2027 warten, wenn Argentinien erneut ein Staatsoberhaupt wählt. Ob das peronistische Lager dann jubeln kann oder ob Milei weitere vier Jahre regieren darf, wird stark davon abhängen, in welchem Zustand sich das Land nach der "Schocktherapie" befindet – und ob der Präsident sein Versprechen halten konnte, Argentinien wirtschaftlich wieder erstarken zu lassen.
Über die Gesprächspartner
- Prof. Dr. Günther Maihold ist Politikwissenschaftler und Professor am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.
- Susanne Käss ist Leiterin des Auslandsbüros Argentinien der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Verwendete Quellen
- rnd.de: Radikalreformen in Argentinien: "Schreiben einen Grossteil der Wirtschaftstheorie neu": Milei findet, er hätte einen Nobelpreis verdient
- rnd.de: Ende der Flitterwochen: Argentinien verliert die Geduld – und Staatschef Milei seine Zustimmung
- spiegel.de: Armutsquote in Argentinien steigt auf rund 53 Prozent
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