Die Bundesregierung will Migrationsabkommen mit verschiedenen Herkunftsländern schliessen. Die Abkommen können vielversprechende Perspektiven bieten. Doch die Sache hat auch einen Haken.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Leon Kottmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Haben Sie schonmal vier Fliegen mit einer Klappe geschlagen? Wohl kaum. Die Bundesregierung will nun genau so ein Kunststück in der Migrationspolitik vollführen. Mittels Migrationsabkommen will sie:

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  • 1. Dafür sorgen, dass viel weniger Menschen im Mittelmeer ertrinken.
  • 2. Irreguläre Migration aus dem jeweiligen Staat stark begrenzen.
  • 3. Abschiebungen von Ausreisepflichtigen aus dem Land ermöglichen.
  • 4. Die deutsche Wirtschaft mit dringend benötigten Arbeitskräften versorgen.

Migrationsabkommen mit Herkunftsländern sind ein Bestandteil der Strategie der Ampelregierung – sie sind im Koalitionsvertrag vereinbart. Dass sie auf der Prioritätenliste mittlerweile sehr weit oben stehen, zeigen die Reise des Bundeskanzlers nach Nigeria und der Innenministerin nach Marokko diese Woche.

Die gefährliche Reise kann verhindert werden

In Deutschland befinden sich aktuell 14.000 Nigerianer, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Die Anerkennungsquote lag 2022 bei nur 11,3 Prozent. Den gefährlichen Weg nach Europa durch die Wüste und über das Mittelmeer treten also die allermeisten völlig umsonst an.

Das liesse sich verhindern, sagt Migrationsforscher Gerald Knaus. Bei einer Podiumsdiskussion in Tutzing erinnert er daran, dass aktuell wieder mehr Menschen bei der gefährlichen Überfahrt ums Leben kommen. Allein 2023 waren es schon mindestens 2.440: "Die am schnellsten wachsende Route ist die zentrale Mittelmeerroute – und auch die tödlichste", sagt Knaus. "Das Ziel sollte sein, dass Menschen nicht mehr in die Boote steigen."

Durch Migrationsabkommen könne man dieses Ziel erreichen. Der Deal lautet so: Nigeria kooperiert ab sofort bei den Rückführungen seiner ausreisepflichtigen Staatsbürger und Deutschland bietet im Gegenzug Visa-Freiheit und Kontingente für legale Arbeitsmigration an. Für Nigerianer wird dann schnell klar: Der illegale Weg lohnt sich nicht, da man zurückgeschickt wird.

Theorie und Praxis am Beispiel Nigeria

Mit einem einzigen Deal wären alle vier Fliegen erschlagen: Weniger Tote im Mittelmeer, weniger irreguläre Einreisen nach Europa, Ausreisepflichtige werden abgeschoben und die deutsche Wirtschaft bekommt motivierte Arbeitskräfte. So weit die Theorie.

In Nigeria versucht die Bundesregierung den Praxistest. Hier gibt es bereits Migrationszentren, die aktuell als Anlaufstation für Rückkehrer in Nigeria dienen. In Zukunft sollen hier auch Fachkräfte beraten werden, die nach Deutschland kommen wollen. "Dafür braucht es einige Vorbereitungen und Investitionen - auf beiden Seiten", merkte Scholz nach seinem Gespräch mit Nigerias Präsident Bola Tinubu an.

Der Kanzler zeigte sich ausgesprochen optimistisch, dass Rückführungen nach Nigeria künftig einfacher werden. Von den 14.000 ausreisepflichtigen Nigerianern haben viele keine Ausweispapiere, was die Feststellung ihrer Identität erschwert. "Da habe ich jetzt mitgenommen, dass das gelingen wird", sagte Scholz mit Blick auf sein Gespräch mit Tinubu. "Die Worte mir gegenüber waren sehr klar."

Der grosse Haken

Wenn eine Kooperation mit Nigeria gelingt, ist das jedoch nur ein kleiner Baustein. Die meisten in Deutschland abgelehnten Asylbewerber kamen 2023 aus der Türkei, dem Irak, Iran und Georgien. Mit Georgien verhandelt Deutschland aktuell über ein Migrationsabkommen.

Mit den anderen drei dürfte eine Kooperation deutlich schwieriger werden. Der Irak gilt immer noch als gescheiterter Staat, der Iran wird von religiösen Fundamentalisten regiert, die den Westen als Feind betrachten. Und ein Abkommen mit Erdogan in der Türkei ist schonmal gescheitert.

Beim EU-Türkei-Deal ging es 2016 um Syrer mit Anrecht auf Asyl. Die EU schickte irregulär eingereiste syrische Flüchtlinge wieder in die Türkei zurück. Im Gegenzug versprach die EU, eine grössere Zahl von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei über legale Fluchtwege aufzunehmen. Das Abkommen wird jedoch seit 2020 nicht mehr umgesetzt.

Menschen mit Recht auf Asyl werden zurückgedrängt

Laut Knaus liesse sich das Abkommen aber wiederbeleben, zum Beispiel, wenn man der Türkei Visafreiheit anbiete. Die Leidtragenden der aktuellen Situation sind die Asylbewerber, die sich in der Türkei in Boote setzen und oft von der griechischen Küstenwache wieder zurückgedrängt werden. Die Chance auf einen Asylantrag bleibt ihnen durch diese illegalen Pushbacks verwehrt.

Unter den Menschen, die über die Türkei fliehen, sind viele, die ein Anrecht auf Asyl hätten. Afghanen, Syrer, aber auch politisch verfolgte Iraner, Iraker oder Türken. Für diese Fälle sollte es andere Möglichkeiten als den illegalen Weg über Schleuser geben, findet Migrationsforscher Niklas Harder:

"Geflüchtete zahlen grosse Summen Geld an Schleuser, um über das Mittelmeer zu kommen. Dieses Geld könnte auch vor Ort in einen Deutschkurs investiert werden – um dann per Visa regulär nach Deutschland zu kommen", sagte er im Gespräch mit unserer Redaktion.

Ein legaler Einreiseweg wäre nicht nur für die Asylbewerber deutlich komfortabler, auch die Aufnahmeländer profitieren: "Integration wird leichter, wenn Leute legal kommen können", weiss Knaus, der darauf verweist, dass die Erlebnisse auf der gefährlichen Flucht oft traumatisch sein können.

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Wer bietet sich als sicherer Drittstaat an?

Wie soll er aber aussehen, der legale Weg für Asylbewerber nach Europa? Denn irgendwo müssen die Asylbewerber ihren Asylantrag stellen. Geht es nach Knaus, soll das in Zukunft in sicheren Drittstaaten geschehen. Asylbewerber aus einem Land mit hoher Ablehnungsquote sollen ab einem Stichtag in ein Drittland ausserhalb Europas gebracht werden, wo das Asylverfahren durchgeführt wird. So soll bald allen klar sein, dass sich die Überfahrt nicht lohnt.

Die Frage ist, welches Drittland ist so sicher und vertrauenswürdig? Die EU und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni trieben zuletzt die Zusammenarbeit mit Tunesien voran, auch CDU-Chef Friedrich Merz hält das Land für einen "sicheren Drittstaat". Doch Knaus sieht das gänzlich anders: "Mit dem zynischen Deal in Libyen und in Tunesien werden auch noch Menschenrechte verletzt. In jeder Hinsicht ist die Europäische Union hier bis jetzt gescheitert."

Knaus bleibt an dem Abend in Tutzing eine Antwort schuldig, welcher Staat aktuell geeignet wäre. Vielleicht hält er es damit aber auch so wie der Kanzler. Der reagierte am Dienstag auf Forderungen aus Union und FDP, mit sicheren Drittstaaten in Nordafrika zusammenzuarbeiten, gereizt. Man sollte bei solchen Vorschlägen zunächst einmal fragen, was die Drittstaaten dazu sagen, die die Verfahren durchführen sollen, sagte Scholz bei seinem Besuch in Ghana. "Das wäre jedenfalls ein höflicher Rat."

Verwendete Quellen:

  • Podiumsdiskussion in Tutzing mit Gerald Knaus
  • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Anerkennungsquoten 2022
  • Material von dpa und afp
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