Zigtausende Menschen sind derzeit auf der Flucht nach Europa. Vor allem aus Syrien. Vier Millionen haben bereits ihr Heimatland verlassen. Wir zeichnen den Weg eines Flüchtlings von Syrien nach Deutschland anhand einer erfundenen Flüchtlingsgeschichte nach.

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Azmi träumt von Deutschland. Wie viele seiner vom Bürgerkrieg gepeinigten Landleute. Er ist 21 Jahre alt, lebte bislang in der syrischen Hauptstadt Damaskus und befindet sich nun auf der Flucht. Ob Azmi wirklich existiert, wissen wir nicht. Sicher ist nur, dass es da draussen Tausende wie Azmi gibt: Verzweifelte Menschen auf der Suche nach einem Leben ohne Krieg und Gewalt.

Vier Millionen Syrer sind bereits aus ihrer Heimat geflohen - und es dürften in den kommenden Monate noch mehr werden. Und Deutschland ist ein beliebtes Ziel. Denn hier, so wird berichtet, gibt es Arbeit, hier kümmert man sich gut um Migranten und bietet ihnen die Chance auf ein besseres Leben. Die Bilder der jubelnden Menschen auf dem Münchener Hauptbahnhof, die neue Flüchtlinge willkommen hiessen, haben die Syrer beeindruckt.

Dabei ist Deutschland ohnehin sehr beliebt, es braucht keine extra Werbung. Azmi ist Fan der Nationalmannschaft: Mesut Özil, Sami Khedira, Jerome Boateng – er kennt die Stars im DFB-Team, die im Ausland ihre Wurzeln haben. Seine Fluchtgeschichte ist erfunden, doch seine Wege haben so oder so ähnlich Hunderttausende Landsleute beschritten.

Die Reichen gehen, die Armen bleiben im Land

Azmi hat Glück. Seine Eltern gehören als Ärzte zur oberen Mittelschicht, sie können ihrem Sohn ausreichend Bargeld mitgeben, irgendwann sollen die Eltern und die jüngeren Geschwister nachkommen. Die Wohlhabenden können Soldaten und Milizionäre an den unzähligen Strassensperren bestechen und sich so den weiteren Weg nach Europa freikaufen. Die Armen bleiben dagegen in Syrien zurück.

Rund Dreiviertel der Bewohner halten sich in den dicht besiedelten Gebieten im Westen auf, die vom Assad-Regime kontrolliert werden. Von dort flüchten auch die meisten ins Ausland. Vor dem Bürgerkrieg lebten 1,8 Millionen Menschen in Damaskus, wie viele es heute sind, weiss niemand genau. "Aus Damaskus und Aleppo, den beiden grössten Städten des Landes, sind in absoluten Zahlen die meisten geflüchtet", sagt der Journalist und Syrien-Experte Fabian Köhler. "Aber es gibt auch Städte, die relativ gesehen einen viel grösseren Teil ihre Bevölkerung verloren haben." Und zwar jene, die mehrfach unter wechselnder Kontrolle von Rebellentruppen oder der Regierung standen und besonders hart umkämpft waren, etwa die Grenzstadt Dar'a im Süden Syriens.

Azmi hat sich für die östliche Mittelmeerroute über die Türkei entschieden, die südöstliche oder mittlere über Jordanien, Ägypten und Libyen ist länger, teurer und gefährlicher. Die Attraktivität Libyens hat wegen des Bürgerkrieges und der Berichte über brutale Schlepper deutlich abgenommen. Ausserdem weiss Azmi von den vielen Toten im Mittelmeer, zwei seiner Cousins sind dort ertrunken. Auch der Flug von der libanesischen Hauptstadt Beirut nach Deutschland kam für ihn nicht infrage: Azmi konnte sich keinen gefälschten Reisepass besorgen.

Die Milizionäre richten Kalaschnikows auf sie ...

Auf dem Highway, der Damaskus mit Homs und Aleppo verbindet, kann er das Land relativ sicher durchqueren. Zwei Freunde aus der Nachbarschaft, die zu Verwandten nach Dänemark möchten, sitzen mit im Auto. An den unzähligen Strassensperren entlang der 350 km langen, von unterschiedlichen Bürgerkriegsparteien kontrollierten Strecke bekommen die Soldaten mal 20, mal 50 Dollar. Den Grossteil des Geldes – das weiss Azmi – braucht er für die Überfahrt übers Meer.

Nur einmal wird es gefährlich, als einige Milizionäre ihre Kalaschnikows auf sie richten. Doch sie lassen sich von der Lüge überzeugen, dass Azmi und seine Freunde ihre kranke Oma in Aleppo besuchen wollen. Und von 50 Dollar extra.

Von Aleppo fahren sie die letzten 70 Kilometer weiter in Richtung der türkischen Grenzstadt Reyhanli, sie lassen ihr Auto zehn Kilometer vor dem Schlagbaum am Strassenrand zurück, verstecken sich stundenlang, bis es dunkel wird. "Einige schlagen sich nachts allein durch die Büsche, andere, die auf Nummer sicher gehen wollen, suchen sich einen Schlepper", berichtet Fabian Köhler, der Dutzende Flüchtlinge interviewt hat.

Meer als gefährlichster und teuerster Fluchtabschnitt

In der Türkei angekommen können sich Azmi und seine Freunde frei bewegen, wie alle Syrer mit gültigen Pässen. Mit dem Bus fahren sie zunächst nach Mersin am Mittelmeer, dann geht es weiter nach Bodrum im Südwesten der Türkei, von wo die keine zehn Kilometer entfernte griechische Insel Kos in Sichtweite ist. Europa ist ganz nah. In Bodrum einen Schlepper zu finden ist ein Leichtes: Über Gruppen auf Facebook, über Tipps von Bekannten, die die Treffpunkte kennen, oder: Die Schmuggler sprechen die Flüchtlinge gezielt an. "Das Meer ist der mit Abstand teuerste und gefährlichste Abschnitt der Flucht", sagt Köhler.

Bis zu 3.000 Euro pro Person für die Überfahrt von Libyen auf die italienische Insel Lampedusa sind keine Seltenheit, hier in Bodrum muss Azmi für einen Platz im Schlauchboot 1.000 Euro abgeben. Nachts versteckt er sich mit 15 anderen Syrern und Afghanen in einem Lagerhaus. Boot um Boot verlässt die Türkei Richtung Kos, die meisten überfüllt, einige kentern, es gibt Tote. Von der von Migranten in Beschlag genommenen Insel – auf dem nördlicheren Lesbos ist die Lage ähnlich dramatisch – werden Azmi und seine Freunde nach ihrer Registrierung und einer Woche Aufenthalt mit Fähren auf das Festland transportiert. Im krisengeschüttelten Griechenland will keiner bleiben, hier gibt es keine Arbeit.

In Thessaloniki finden sie einen neuen Schlepper, sie buchen ein "All-Inclusive-Paket" nach Deutschland. Kostenpunkt: 4.000 Euro pro Person. Nun geht es in Kleintransportern oder Lkw weiter. Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich, Deutschland. Azmi ist einer von 5.000 Migranten, die täglich Griechenland Richtung Norden verlassen. In diesem Jahr kamen 140.000 über die sogenannte Westbalkanroute nach Ungarn. Immer nach dem Grenzübertritt werden sie an den nächsten Schlepper übergeben. Das Netzwerk ist gross, bestens organisiert und gierig nach Profit.

Betrogen, erwischt, verprügelt

Azmi und seine Freunde hatten grosses Glück. Das Meer war bei ihrer Überfahrt wieder ruhig, sie bekamen regelmässig Wasser, die Schlepper haben sie nicht um ihr Geld betrogen. Andere Flüchtlinge brauchen manchmal Monate oder Jahre, weil sie unterwegs mit Nebenjobs ihre Weiterfahrt finanzieren müssen, an Grenzen erwischt oder von Polizisten verprügelt werden.

Dabei war die Balkanroute vor ein paar Monaten noch leichter zu durchqueren. Die Grenzkontrollen an der mazedonisch-serbischen, der serbisch-ungarischen und der ungarischen-österreichischen Grenze seien in den vergangenen Wochen schärfer geworden, berichtet Fabian Köhler. Durch den noch teilweise im Bau befindlichen ungarischen Zaun an der Grenze zu Serbien wird erwartet, dass die Hauptroute dann von Serbien durch Bosnien, Kroatien und Slowenien nach Österreich und Deutschland verlaufen wird.

Die Syrer werden so oder so einen Weg nach Europa finden. Azmi hat es nach knapp drei Wochen nach Deutschland geschafft, erschöpft und überglücklich. Er will nun Asyl beantragen und so schnell wie möglich ein Medizinstudium beginnen – so wie seine Eltern, die er im syrischen Bürgerkrieg zurücklassen musste.

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