Der russische Präsident Wladimir Putin bleibt weitere sechs Jahre an der Macht. Wie das Wahl-Ergebnis einzuschätzen ist, was es für die Spannungen des Westens mit Russland bedeutet und warum wir längst in einer Art neuem Kalten Krieg stecken, erklärt der ehemalige SPD-Chef und aktuelle Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums, Matthias Platzeck, im Interview.

Ein Interview

Wladimir Putin hat die Präsidentschaftswahl in Russland mit knapp 77 Prozent der Stimmen gewonnen. Es gab aber auch wieder Berichte über Unregelmässigkeiten und Wahlfälschungen. Was ist Russland: gelenkte Demokratie, Scheindemokratie oder Autokratie?

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Mathias Platzeck: Ich würde zu Autokratie tendieren, mit demokratischen Elementen. Man soll sich ja Dinge auch nicht schönreden. Trotz der von Ihnen gerade angesprochenen Wahlmanipulationen kann man mit Fug und Recht behaupten, dass das ein fast schon überwältigendes Votum für den Präsidenten Putin ist.

Es ist ja auch über seine eigene Zielmarke hinausgeschossen. Und da sollten wir jetzt nicht davon ausgehen, dass die Manipulationen die Wahl Putins erst ermöglicht haben.

Wenn man in Russland unterwegs war und mit den Menschen in den vergangenen Wochen und Monaten gesprochen hat, dann hat man schon deutlich wahrgenommen, dass die grosse Mehrheit diesen Präsidenten will. Das sollten wir berücksichtigen und in unser politisches Kalkül für die künftigen Beziehungen deutlich mit einbeziehen.

Was bedeutet das starke Ergebnis für Putin für die internationalen Krisen – allen voran das Zerwürfnis mit Grossbritannien wegen des Giftanschlags auf Sergej Skripal?

Einerseits ist Putin mit diesem Sieg so gestärkt worden, dass er an manchen Stellen vielleicht zurückhaltender agieren kann. Er muss jetzt niemandem mehr etwas beweisen, er hat den Russen deutlich das Gefühlt vermittelt: Wir sind wieder wer auf der Weltbühne.

Warum ist das so wichtig?

Für Russland ist es enorm wichtig, den Identitätsverlust, der in den 1990er Jahren eingetreten ist, zu kompensieren. Und das ist jetzt zum grossen Teil geschehen. Putin kann damit gerade aussenpolitisch jetzt auch zurückhaltender auftreten. Das könnte neue und positive Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Zumindest ist das zu hoffen.

Ist die aussenpolitische Stärke, die Putin demonstriert, für sein starkes Ergebnis verantwortlich?

Ich glaube, dass wir in die Geschichte schauen müssen. In Russland ist in den 1990er Jahren mehr passiert, als das, was wir im Westen realisieren. In diesem Land ist mit dem Ende der Sowjetunion der komplette Staat zusammengebrochen.

Wenn ich in Russland auf Podiumsdiskussionen unterwegs bin, dann erlebe ich immer wieder eine Sache: Wenn dort mit für uns völlig normalen Begriffen gesprochen wird - Demokratisierung, Marktwirtschaft, Privatisierung -, erlebe ich dort oft traumatische Erinnerungen. Da heisst es: 'Um Gottes Willen, nie mehr so etwas'. Viele haben diese Zeit als Zeit des absoluten Chaos erlebt, des Verfalls, des nicht mehr Zahlens von staatlichen Gehältern und Renten.

Und dann kam Putin?

Er hat nach und nach den Staat wiederhergestellt, Lebensbedingungen stabilisiert und den Menschen auch eine Perspektive gegeben. Und dazu kommt dann eben noch ein Punkt, den wir viel zu lange zu gering bewertet haben: Den Identitätsverlust, dieses Gefühl der Russen: Wir sind niemand mehr.

Es gibt ja diese berühmte Taxifahrer-Geschichte aus Russland. Da sagt der Taxifahrer: 'Unter Breschnew hat es sich wirklich bescheiden gelebt' - ein russischer Taxifahrer würde das etwas drastischer ausdrücken, aber das möchte ich jetzt nicht - 'aber wir waren im Weltraum, im Sport, beim Militär eine Weltmacht. Das tröstet. Und jetzt unter Jelzin lebt es sich noch bescheidender und wir sind gar nichts mehr auf dieser Welt.'

Diesen Verlust hat Putin wieder aufgefüllt und das hat zu diesem starken Votum geführt, das in der Höhe für uns kaum nachvollziehbar ist.

Noch einmal zurück zum Fall Skripal: Was bedeutet das starke Ergebnis hier?

Russland sollte weniger Sarkasmus und mehr Kooperation zeigen und vom Westen würde ich mir in erster Linie wünschen, dass wir das bewährte Prinzip der Rechtsstaatlichkeit nicht ausser Acht lassen.

Das heisst, dass wir erst einmal Beweise erheben, dann Verdächtige benennen und dann erste Schlussfolgerungen ziehen. Das haben wir in dem Fall in Teilen auf den Kopf gestellt.

Laut Grossbritannien gibt es diese Beweise aber doch.

Aber erst jetzt soll die Kontrollkommission für Chemiewaffen anfangen, eine eigene Untersuchung einzuleiten. Und erst in 14 Tagen werden dann belastbare und unabhängige Ergebnisse vorgelegt werden. Wir haben aber jetzt schon - salopp gesagt - den Täter erschossen.

Man möge sich nach all dem, was schon passiert ist, nur mal vorstellen, dass die Spur doch woanders hinweist, als zu den Russen. Ich weiss das nicht, aber ich möchte das zur Diskussion stellen. Das wäre dann ein erheblicher Glaubwürdigkeitsschaden, den unsere Demokratien zu erleiden hätten.

Es muss aber doch auch klar sein, dass dem Westen Beweise vorliegen. Sonst würden doch die USA, Frankreich und Deutschland keine gemeinsame Erklärung mit Grossbritannien unterzeichnen.

Ich unterstelle mal, dass ihnen Beweise vorliegen. Aber ich frage mich trotzdem, warum es in allen politischen Darstellungen, die mir zugänglich sind, von Begriffen wie 'vermutlich', 'höchstwahrscheinlich', 'kaum eine andere logische Erklärung' nur so wimmelt.

Das hat doch noch nichts mit Beweiserhebung zu tun. Und deswegen wundert es mich ja auch, dass jetzt erst die Kontrollkommission angerufen wird. Das Attentat liegt ja jetzt Tage und Abertage zurück. Wenn das früher geschehen wäre, hätte man doch viel Druck rausnehmen können.

Ich muss auch sagen, dass ich, gerade wenn Geheimdienste im Spiel sind, niemandem und kaum noch etwas glaube. Erinnern wir uns doch an den Irak-Krieg, als die USA sogenannte Beweise im UN-Sicherheitsrat vorgelegt haben. Heute wissen wir, dass das eine Lüge war. Der darauf folgende Einmarsch hat tausende Menschenleben gekostet und die Region bis heute destabilisiert. Von daher sollte man eine gewisse Vorsicht walten lassen.

Es wird ja jetzt unabhängig untersucht. Gleichzeitig ist der britische Aussenminister Boris Johnson ziemlich deutlich und spricht davon, dass die Spur wahrscheinlich sogar direkt in den Kreml führt und nennt die russischen Dementi immer absurder. Damit erhöht er noch einmal den Druck.

Noch einmal: Ich kann das schwer einschätzen, weil mir die Beweise, die Boris Johnson offenbar hat, nicht vorliegen. Es ist schon sehr weitgehend, einen Präsidenten eines anderen Landes direkt anzusprechen. Im diplomatischen Raum gibt es kaum noch eine Steigerung. Da muss man eigentlich davon ausgehen, dass es schlagende Beweise gibt. Dass die aber nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, erzeugt erhebliche Unsicherheit.

Einmarsch auf der Krim, Wahleinmischung in den USA, jetzt der Giftanschlag – die Liste der Vorwürfe gegen Moskau ist ziemlich lang. Wie gross sehen Sie die Gefahr eines neuen Kalten Krieges?

Aus meiner Sicht sind wir längst in einem Zustand, der dem des Kalten Krieges gleicht, wenn nicht sogar darüber hinausgeht. Eigentlich ist die Lage heute explosiver, unübersichtlicher, komplexer und schwerer beherrschbar. Denn damals standen sich zwei ganz klare Fronten gegenüber; vielleicht mit unterschiedlichen Ideologien, aber es war ein sortiertes Gegenüber.

Heute ist es viel vielschichtiger. Es gibt jetzt schon so viele Stellvertreterkriege, dass ich sagen würde, dass wir das Gefahrenniveau des Kalten Krieges, das Potenzial an möglichen Eskalationen längst erreicht haben. Das betrifft auch die Wortwahl.

Wie kommt man aus dieser Spirale wieder heraus?

Kurz nachdem Russland 1968 den Prager Frühling niedergeschlagen hat, haben mutige Politiker fast schon paradox gehandelt. Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt und Egon Bahr haben den Russen einen Grundlagenvertrag angeboten. Wenige Jahre später kam es dann zur Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit von Helsinki. Die hat vieles entspannt und entkrampft.

Ich würde mir wünschen, dass wir jetzt, nachdem der Präsident wiedergewählt worden ist und wir wieder eine Bundesregierung im Amt haben, diese Kraft, diese Weitsicht und diesen Mut finden, um die Eskalationsspirale mit ähnlichen Mitteln abzustellen. Es geht aus meiner Sicht auf unserem Kontinent längst wieder um die Sicherung des Friedens.

Der Fraktionsvorsitzende der Konservativen im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU), spricht von einem Krieg, den Putin führe. Andere fordern Sanktionen gegen Gerhard Schröder und nennen ihn Putins Cheflobbyisten. Andererseits gibt es auch Forderungen nach einem Abbau der Sanktionen gegen Russland, wie gerade eben erst von Wolfgang Kubicki. Was ist der richtige Weg: Mehr Druck oder Entspannung um jeden Preis?

Meine feste Überzeugung ist, dass Druck bei Russland nicht funktioniert. Das sieht man ja auch an der Wirksamkeit der Sanktionen, die seit drei, vier Jahren laufen. Und da kann man nur feststellen, dass die politischen Verhältnisse dramatisch schlechter geworden sind, die militärische Eskalation hat zugenommen, auf der Krim und in der Ostukraine hat sich nichts entspannt und die Entfernung - wie es Bundespräsident Steinmeier gesagt hat - ist noch grösser geworden.

Und auch die russische Wirtschaft ist unter den Sanktionen nicht zusammengebrochen, die steht besser da als in den letzten Jahren.

Also weg mit den Sanktionen?

Ich halte da - und das ist ja bekannt und dafür hole ich mir ja regelmässig Prügel ab - Entspannung für das Gebot der Stunde. Wir müssen mit den Russen gemeinsam ein Sicherheitssystem konstruieren, in das sie auf Augenhöhe mit einbezogen sind. Und dann sollte man eine Helsinki-II-Konferenz durchaus ins Auge fassen.

Wir müssen vielleicht nicht gerade zu einem partnerschaftlichen Verhältnis kommen - das sehe ich derzeit nicht mit Russland - aber zumindest zu einem vernünftigen. Denn alle weltpolitischen Probleme, vor denen wir stehen, können wir ohne Russland nicht lösen. Das sagt ja selbst die Kanzlerin. Ob das Sicherheitsfragen sind oder Terrorbekämpfung, Flüchtlingsfragen, Klimawandel.

Putin darf laut Verfassung nicht noch einmal antreten. Glauben Sie, dass es wirklich so kommt?

Das ist schwer zu bewerten, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass er die Verfassung ändert. Nach meinem Gefühl ist es eher so, dass Putin eine Nachfolgelösung aufbauen wird. Aber das hängt auch von der Entwicklung in den kommenden Jahren ab. Es ist ja auch nicht so, dass vor ihm keine innenpolitischen Aufgaben liegen würden.

Welche sind das?

Da geht es vorwiegend um die Modernisierung der Volkswirtschaft und die Stabilisierung der Sozialsysteme, allen voran das Gesundheitssystem. Aber auch um den Kampf gegen die Korruption.

In seiner ersten Rede nach der Wahl hat Putin ja bereits Entspannungssignale an den Westen gesendet und will beispielsweise die Rüstungsausgaben senken. Besteht die Hoffnung, dass sich Putin nun mehr auf die Innenpolitik konzentriert und weniger auf die Konfrontation in der Aussenpolitik?

Ja, die Hoffnung gibt es. Das Wahlergebnis gibt ja auch mehr her als auf den ersten Blick zu sehen. Auf Platz zwei gab es mit dem kommunistischen Kandidaten Pawel Grudinin schon ein Signal. Er hat im Wahlkampf ganz klare Fragen aufgeworfen, die alle sozial- und wirtschaftspolitischer Natur waren. Ich glaube, dass das ein Fingerzeig war, was die Menschen unabhängig von der Aussenpolitik bewegt.

Da ist man im Kreml mit Sicherheit gut beraten, genau hinzuschauen. Deshalb denke ich, dass die nächsten drei, vier Jahre klar von grossen Anstrengungen gekennzeichnet sein werden, die Volkswirtschaft zu modernisieren, gerade auch in technologischen Fragen, dazu gehört Wissenschaft und Forschung ebenso wie Bildung. Für uns könnten sich hier dann auch neue Felder der Zusammenarbeit ergeben, was durchaus wünschenswert wäre.

Zur Person: Matthias Platzeck ist 1953 in Potsdam geboren. Der studierte Umweltwissenschaftler engagierte sich in der Wende- und Wiedervereinigungszeit zunächst beim Bündnis 90. Nach dessen Fusion mit den westdeutschen Grünen war er vorübergehend parteilos, seit 1995 ist er in der SPD. Zwischen 2002 und 2013 war er brandenburgischer Ministerpräsident, zwischen 2005 und 2006 auch SPD-Vorsitzender. Seit 2014 ist er Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums e.V.
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