• Russland wird wegen seines Angriffskriegs gegen die Ukraine von verschiedener Seite "Genozid", also Völkermord vorgeworfen.
  • Es handelt sich um einen Straftatbestand im Völkerrecht, der Begriff wird aber auch politisch benutzt und ist emotional aufgeladen.
  • Eine UN-Beobachtermission hat keine Hinweise für einen Völkermord gefunden, letztendlich müsse ein Gericht entscheiden.

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Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine gibt es immer wieder den Vorwurf, Russland würde einen sogenannten Genozid, also Völkermord begehen. Vor Kurzem stufte beispielsweise neben dem estnischen auch das ukrainische Parlament die Gewalttaten der russischen Armee offiziell als solchen ein. Er äussere sich in den "massenhaften Gräueln" unter anderem in den Kiewer Vororten Butscha, Borodjanka, Hostomel, Irpin.

Darunter würden Morde, Entführungen, Folter und Vergewaltigungen fallen. Zudem werde versucht, durch die komplette oder teilweise Blockade von Städten Teile der ukrainischen Bevölkerung auszulöschen.

Darüber hinaus verhindere Russland durch Zwangsdeportationen von Kindern und deren Adoption durch Russen deren Selbstidentifikation als Ukrainerinnen und Ukrainer, so der Vorwurf. Durch systematische Zerstörung der wirtschaftlichen Infrastruktur des Landes beabsichtige das Land ebenfalls eine Vernichtung des ukrainischen Volkes.

Ist das, was Putin macht, Völkermord?

"Ich habe es Völkermord genannt, denn es wird klarer und klarer, dass Putin einfach versucht, die Idee, überhaupt Ukrainer sein zu können, einfach auszuradieren", sagte vor Kurzem auch US-Präsident Joe Biden, der sich zuvor noch anders geäussert hatte. Letztlich müssten aber juristische Fachleute auf internationaler Ebene entscheiden, ob es sich um Genozid handele, so der Politiker.

Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron warnte in dem Zusammenhang, eine "Eskalation der Worte" sei nicht unbedingt zielführend. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wollte sich Bidens Einschätzung zu dem Zeitpunkt nicht direkt anschliessen und sprach von "Kriegsverbrechen". Kanadas Regierungschef Justin Trudeau teilte dagegen mit, von Völkermord zu sprechen sei "absolut richtig".

Sein Sicherheitsberater Jake Sullivan hatte Anfang April gesagt: "Wir haben Gräueltaten gesehen, wir haben Kriegsverbrechen gesehen. Wir haben noch nicht ein Ausmass an systematischer Beraubung von Leben des ukrainischen Volkes gesehen, das das Ausmass eines Genozids erreicht." Diese Einschätzung könne sich aber jederzeit ändern. Was genau versteht man also unter dem Begriff? Ein Überblick.

Völkermord und Völkerrecht: Rechtliche Grundlagen

Als Folge des Holocausts verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) im Dezember 1948 das "Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes". Mit der im Januar 1951 in Kraft getretenen Konvention wurde Genozid zu einem völkerrechtlichen Straftatbestand.

Gemäss Artikel 2 der UN-Konvention handelt es sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, "begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören". Dabei geht es nicht nur um systematisches Töten, sondern auch um die vorsätzliche Verschlechterung von Lebensbedingungen.

Die Zahl der Opfer spielt gemäss der Konvention keine Rolle. Mit der Ratifizierung haben sich die UN-Mitglieder verpflichtet, Verbrechen dieser Art zu verhüten und zu bestrafen. Wie eng der Begriff zu definieren ist, darüber streiten Juristen seit seiner Einführung in das Völkerstrafrecht.

Laut der Konvention umfasst der Tatbestand unter anderem die "Tötung von Mitgliedern der Gruppe", die "Zufügung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe", die Verhinderung von Geburten innerhalb einer Gruppe sowie die Verschleppung von deren Kindern in eine andere Gruppe.

Historische Beispiele und politische Dimension

Als Völkermord gelten neben den Taten des Nationalsozialismus etwa die Ermordung von Armenierinnen und Armeniern im Osmanischen Reich (heutige Türkei) ab 1915, die von Hutu-Milizen an Hunderttausenden Tutsi begangenen Verbrechen in Ruanda 1994 sowie das von Serbien an bosnischen Musliminnen und Muslimen verübte Massaker in Srebrenica 1995. 2021 erkannte Deutschland auch die Ermordung von Herero und Nama im heutigen Namibia während seiner Zeit als Kolonialmacht vor mehr als 100 Jahren als Genozid an.

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Im März 2022 stuften die USA ausserdem die Vergehen des Militärs in Myanmar an der muslimischen Minderheit der Rohingya als Völkermord ein. Unter Bidens Vorgänger Donald Trump hatte die US-Regierung Anfang 2021 wiederum China einen Völkermord an der muslimischen Minderheit der Uiguren vorgeworfen. Kritiker meinten, diese Einstufung wenige Tage vor dem Ende von Trumps Amtszeit sei vor allem politisch motiviert, da sich die US-chinesischen Beziehungen unter dem Präsidenten verschlechtert hatten.

Die Einstufung als Völkermord gilt nicht nur als juristische, sondern auch politische Frage, die emotional stark aufgeladen ist. Der Bundestag stufte das Massaker an Armeniern während des Ersten Weltkriegs 2016 als Völkermord ein, was eine schwere diplomatische Krise mit der Türkei auslöste. Die USA folgten 2021, anlässlich eines entsprechendes Jahrestags wiederholte Präsident Biden den Vorwurf am vergangenen Wochenende. Als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs gibt die Türkei die Tötung von 300.000 bis 500.000 Menschen zu, weist die Einstufung als Völkermord aber zurück.

Ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Genozid?

Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) teilte Ende vergangener Woche laut reuters.com mit, eine Beobachtermission habe keine Hinweise für einen Völkermord durch russische Truppen gefunden. "Über viele dieser rechtlichen Einstufungen - Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord - müsste letztendlich ein Gericht entscheiden (...)", sagte die Sprecherin.

Die genaue Einordnung des russischen Vorgehens gegen die Ukraine ist Fachleuten zufolge schwierig. "Die Brutalität von Tötungen an sich ist nicht ausreichend für die Feststellung eines Völkermords", sagte der Politikwissenschaftler David Simon von der US-Universität Yale der Nachrichtenagentur AFP. Zentral sei vielmehr die Absicht, eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Dies im aktuellen Krieg festzustellen sei eine komplizierte Angelegenheit.

"Die Rhetorik aus Moskau macht kein Geheimnis daraus, dass die Existenz und damit das Existenzrecht der ukrainischen Nationalität geleugnet wird", sagt Simon. "Aber bestreiten sie auch das Existenzrecht der Ukrainer als Volk - oder nur ihr Recht, sich als Ukrainer zu begreifen?" Letzteres wäre nicht von der Völkerrechtskonvention abgedeckt, so der Experte.

Zugleich verweisen Simon und andere Experten auf die pauschale Bezeichnung von Ukrainern als Nazis oder Neonazis durch russische Medien und Putins Ankündigung, er wolle die Ukraine "entnazifizieren". Dies könnte demnach die rhetorische Grundlage für einen Völkermord bilden .(AFP/dpa/okb)

Ehemalige UN-Anklägerin Del Ponte fordert Haftbefehl gegen Putin

Die ehemalige UN-Chefanklägerin Carla Del Ponte hat erneut gefordert, einen internationalen Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin zu erlassen. Putin könne zwar erst vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden, wenn er nicht mehr im Amt sei, doch die Justiz habe Geduld, sagte die Juristin am Sonntag am Rande einer Literaturveranstaltung im Schweizer Ort Ascona. "Es gibt keine Verjährung für diese Verbrechen. Und Putin wird nicht ewig Präsident bleiben", sagte sie. (Bildnachweis: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Mikhail Klimentyev)
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