Bundesrat Ignazio Cassis machte kürzlich mit seiner Aussage zum UNO-Flüchtlingshilfswerk UNRWA Schlagzeilen. Auch in der Verhandlung zum Rahmenabkommen machte der Aussenminister unvorhergesehene Wendungen. War es Intuition? War es Taktik? Man weiss es nicht. Was man weiss, ist allein: Das Land diskutiert wieder mal, wie Diplomatie zu sein hat.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die zurückhaltende Aussenpolitik der Schweiz immer wieder eigenwillige, mutige und laute Momente erfuhr – gleich deren drei in der Ära von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey.
1. Kopftuch: Anbiederung oder ganz nach Protokoll? Der Teheran-Besuch 2008
Micheline Calmy-Rey reiste 2008 als erste westliche Aussenministerin zum damaligen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad in den Iran. Es ging vor allem darum, der Axpo bei einem Gas-Deal Schützenhilfe zu leisten. Zu diesem Anlass trug die Bundesrätin ein locker sitzendes Kopftuch.
In der Schweiz führte diese Geste zu einem Aufschrei, dem mit ebenso lauten Gegenstimmen begegnet wurde. Bundespolitiker verschiedenster Parteien äusserten sich zum Stück Stoff:
"Es ist unnötig, ein Kopftuch zu tragen", meinte damals Christine Egerszegi von der FDP. CVP-Präsident Christophe Darbellay verlangte sogar, die Bundesrätin müsse sich vor der Aussenpolitischen Kommission für den "peinlichen Kniefall vor Ahmadinedschad" erklären.
Anders als in Saudi-Arabien verlangt das Gesetz im Iran die Verschleierung von Frauen aller Religionsgemeinschaften. Verteidiger Calmy-Reys führten an, ohne diese Geste wäre es den Gastgebern gar nicht möglich gewesen, die Aussenministerin überhaupt zu empfangen.
Die Kontroverse um Calmy-Reys Besuch ging über die Kopftuchfrage hinaus – die Schweiz erhielt Kritik aus den USA, der Gas-Deal verstosse gegen UN- und US-Sanktionen. Selbstbewusst kam die Antwort: die Schweiz müsse die USA nicht um Erlaubnis bitten.
Ohne jemals in Kraft zu treten, wurde der Vertrag 2016 beerdigt, da sich die Parteien beim Preis und den Transportwegen nicht einigen konnten.
2. Aussenminister Petitpierres Eingebung: Anerkennung der Volksrepublik China bereits 1950
Als einer der ersten westlichen Staaten anerkannte die Schweiz die Volksrepublik China bereits 1950, drei Monate nach der kommunistischen Machtübernahme im Oktober 1949.
Die Anerkennung lässt sich, wie die NZZ treffend schreibt, als "vorauseilende Entschlossenheit"und "beherzte Eigenständigkeit" bezeichnen. Der Akt war insbesondere deshalb ungewohnt, weil die Schweiz vielen Westmächten sowie der UNO um Jahrzehnte voraus war (Die UNO anerkannte die Volksrepublik China 1971, die USA erst 1979). Der Bundesrat besann sich damals primär auf völkerrechtliche und politische Pragmatik und liess ideologische Überlegungen aussen vor. Überraschend war auch, dass die Schweiz nicht bloss den Staat China, sondern auch explizit dessen Regierung anerkannte, ein für die Schweizer Aussenpolitik sonst eher unüblicher Schritt.
Es gab konkrete Schweizer Interessen, die in China auf dem Spiel standen. Besonders das Schicksal der in China gefangengenommenen Missionare, die Gängelung schweizerischer Unternehmer und die finanzielle Entschädigung für kriegszerstörte Schweizer Investitionen waren Anreize zur schnellen Normalisierung des Verhältnisses Schweiz-China.
Die Schweizer Presse reagierte auf unterschiedlichste Weise auf diesen Schritt. Einerseits bestand relative Einigkeit darüber, dass die wirtschaftlichen Möglichkeiten für die Schweiz beträchtlich seien. Andererseits wurden Vergleiche zur umstrittenen Anerkennung des Franco-Regimes in Spanien gezogen.
Ein mutiger Schritt, der sich auszahlte. Wie lange die kommunistische Regierung unter Mao-Tse-Tung sich an der Macht würde halten können, wusste damals noch niemand. Ausserdem schwelte bereits der Korea-Konflikt. Trotzdem war Aussenminister Max Petitpierre davon überzeugt, dass die rasche Anerkennung Vorteile bringen würde für die Schweizerische China-Gemeinde und die wirtschaftlichen Interessen des Landes. Bis heute bleibt dieser diplomatische Entscheid in der Volksrepublik hochgeschätzt.
3. Die Schweiz prescht vor und anerkennt Kosovo 2008
Die Schweiz hatte sich bereits 2005 als eines der ersten Länder für die kosovarische Unabhängigkeit ausgesprochen und bot sich als Mediatorin für einen allfälligen Dialog zwischen Pristina und Belgrad an. Die Schweiz war damals neben den USA und Dänemark das einzige Land, das so früh eine so klare Position vertrat. Dies blieb nicht ohne Kritik: Josef Lang, Zuger Nationalrat (Grüne), reichte im Parlament einen kritischen Vorstoss ein, der bemängelte, dass mit der Anerkennung konkrete Projekte der zivilen Friedensförderung bedroht und die Guten Dienste beeinträchtigt würden.
Die vollumfängliche Anerkennung des Kosovo 2008 durch die Schweiz war, gemessen an der sonstigen Zurückhaltung bei kontroversen völkerrechtlichen Themen, eine Überraschung. Die Bundesratsparteien, mit Ausnahme der SVP, begrüssten den Entscheid zögerlich. Die SVP-Vertreter Hans Fehr und Oskar Freysinger monierten damals, als neutrales Land hätte die Schweiz hier nicht vorauseilen sollen, da Kosovo sich völkerrechtswidrig für unabhängig erklärt habe.
2010 urteilte der Internationale Gerichtshof in Den Haag über die Separation und befand sie als rechtmässig.
4. 1917: Bundesrat Arthur Hoffmanns Vermittlungsversuche gehen zu weit
Arthur Hoffmann, laut alt Botschafter Paul Widmer "der mächtigste Bundesrat, den die Schweiz je hatte", war für seinen Vermittlungseifer und sein Netzwerk berühmt. Während des Ersten Weltkrieges versuchte er immer wieder, entgegen der von ihm öffentlich proklamierten strikten Neutralität die Schweiz bei den Kriegsparteien als Mediatorin zu positionieren. So kontaktierte er bereits 1915 US-Präsident Wilson und ein Jahr später diverse französischen Oppositionspolitiker.
1917 gingen seine Bemühungen dann aber zu weit: die Versuche, mithilfe des Berner Nationalrats und Sozialisten Robert Grimm zwischen Russland und Deutschland zu vermitteln, interpretierten Frankreich und Grossbritannien als deutschfreundlichen Akt. Hoffman habe einen Separatfrieden herbeiführen wollen und damit das Gebot der Neutralität verletzt.
Die Vorwürfe waren hart, die Bezeichnung "deutschfreundlicher Verräter" machte die Runde. Aufgrund des innenpolitischen Drucks entschied sich Hoffmann, zurückzutreten.
5. Micheline Calmy-Rey wagt in Korea eine symbolkräftige Geste
Die Überschreitung Grenze von Nord- nach Südkorea im Mai 2003 war einer der ersten wirkungsmächtigen Handlungen der damals neu gewählten Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Die Geste markierte den Beginn einer von ihr proklamierten aktiven Neutralitätspolitik. Das Ziel war, die Schweiz als engagiertes Vermittlungsland wieder ins Spiel zu bringen. Entgegen der positiven Resonanz in Korea – und in China – wurde die Aktion in der Schweiz teilweise stark kritisiert.
Allerdings war die Reise nach China und Korea bereits von Vorgänger Joseph Deiss geplant worden. In den beiden Korea und in China wurde die Reise positiv aufgenommen. © swissinfo.ch
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