- Seit einigen Wochen registrieren litauische Grenzschützer einen sprunghaften Anstieg illegaler Grenzübertritte.
- Grössere Gruppen von Menschen insbesondere aus dem Irak versuchen aus Belarus nach Litauen zu kommen.
- Das litauische Aussenministerium wirft dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko vor, Migranten gezielt gen Europäische Union zu lotsen
Das Muster ist auffällig: Wieder sind es wohl irakische Staatsbürger. Wieder ist es eine Gruppe. Und wieder kam diese aus Belarus und versuchte, über die EU-Aussengrenze nach Litauen zu gelangen.
In der Nacht zu Mittwoch haben Beamte des litauischen Grenzschutzes im Dorf Vosiūnai ganz im Osten des Landes vier Personen festgenommen, wie das Staatsgrenzschutzamt am Innenministerium der Republik Litauen auf seiner Webseite berichtet. Die vier Festgenommen haben demnach Asyl beantragt.
Der Vorfall reiht sich ein in eine Serie: In der Nacht zu Sonntag versuchten zwei Gruppen von 21 und 27 Menschen, die 600 Kilometer lange Grenze zwischen Belarus und Litauen zu überwinden, am Freitag waren es drei Gruppen mit insgesamt 32 Migranten. "Dieser Trend ist zutiefst besorgniserregend", erklärt das litauische Aussenministerium in einer schriftlichen Stellungnahme auf Nachfrage unserer Redaktion. Die Mehrheit der Migranten käme demnach aus dem Irak, Syrien, Iran und Afghanistan.
In diesem Jahr haben litauische Grenzschützer bereits 391 illegale Einreisen aus Belarus registriert (Stand: 16. Juni) – fünfmal so viele wie im Vorjahr. 2020 griffen die Beamten 81 Menschen beim illegalen Grenzübertritt aus dem östlichen Nachbarland kommend auf, 2019 waren es 49. Litauens Aussenministerium wirft Belarus vor, nicht nur über den Menschenschmuggel Bescheid zu wissen, sondern "ihn sogar als hybrides Instrument gegen Litauen und die gesamte EU einzusetzen".
Lukaschenko droht der EU, Migranten durchzulassen
Es gibt mehrere Hinweise, die diesen Verdacht erhärten: Nachdem die Europäische Union wegen der Entführung einer Passagiermaschine samt Festnahme des Bloggers Roman Pratassewitsch und seiner Freundin Sofia Sapega neue Sanktionen gegen Belarus erlassen hatte, drohte Alexander Lukaschenko damit, Migranten auf dem Weg in die EU nicht mehr aufzuhalten.
"Wir haben Migranten und Drogen gestoppt – jetzt könnt ihr sie selbst fangen und selbst essen", sagte der belarussische Machthaber in einer Rede am 26. Mai im Parlament.
Wohlgemerkt: Belarussischen Staatsbürgern ist es nach der Niederschlagung der Massenproteste gegen Lukaschenko im vergangenen August massiv erschwert worden, das Land ohne triftigen Grund und auf legalem Weg zu verlassen.
Eine staatliche Tourismusagentur als Schlepper?
Leicht wird es hingegen wohl irakischen Staatsbürgern gemacht. Der oppositionelle Telegram-Kanal "Nexta" (der von Pratassewitsch mitgegründet wurde, er verliess das Projekt aber im September 2020) berichtet, dass das belarussische Regime Migranten hilft, in Richtung EU zu gelangen.
Die staatliche Tourismusagentur Zentrkurort stelle demnach die Einladungen aus und leite die notwendigen Papiere an die Grenzbeamten am Minsker Flughafen weiter, erläutert der "Nexta"-Chefredakteur Tadeusz Giczan das Vorgehen auf Anfrage unserer Redaktion. "Dann erhalten die Iraker, die auf den Listen stehen, bei ihrer Ankunft am Flughafen problemlos ein Visum." Giczan sagt, er habe die Informationen von drei unabhängigen Quellen aus dem Minsker Flughafen erhalten. Unklar ist, wie die Iraker von dem Programm erfahren und wie teuer es ist.
Fakt ist: Iraqi Airways fliegt den Minsker Flughafen zweimal wöchentlich aus der irakischen Hauptstadt Bagdad an (Mittwoch und Freitag). Der Flug kostet laut Webseite der Fluglinie 430 US-Dollar, umgerechnet etwa 350 Euro. Die Verbindung wurde laut staatlicher belarussischer Nachrichtenagentur Belta erst am 10. Mai aufgenommen, statt einer Boeing 737-800 setzt Iraqi Airways aber mittlerweile die deutlich grössere Version 777-200LR ein. Dazu fliegt Fly Baghdad ebenfalls zweimal die Woche die gleiche Route (Montag und Donnerstag).
Oberster belarussischer Grenzschützer gibt zu: Nicht in der Lage, alle illegalen Übertritte zu verhindern
Der litauische Aussenminister Gabrielius Landsbergis erklärte am Montag in der "Financial Times", dass Zentrkurort Migranten mit einem Pauschalangebot anlocken würde. Dieses beinhalte ihm zufolge neben dem Flug aus Bagdad oder Istanbul auch die Weiterreise zur litauischen Grenze. Landsbergis sagt, dass sich gegenwärtig Tausend Iraker und Syrer in Minsk aufhalten. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.
Bereits Anfang Juni hatte der Leiter des litauischen Grenzschutzes, Rustamas Liubajevas, belarussischen Grenzern vorgeworfen, zur illegalen Migration von Belarus nach Litauen beizutragen. Er präsentierte ein Video, auf dem belarussische Grenzer zu sehen sein sollen, während sie Spuren nach einem illegalen Grenzübertritt verwischen.
Der Leiter des Staatlichen Grenzkomitees der Republik Belarus, Andrej Filatow, streitet das ab. Er warf am Montag auf einer Pressekonferenz seinen litauischen Kollegen "unprofessionelle Bewertungen" und litauischen Medien die Verbreitung von "Fake News" vor. Filatow räumte aber ein, dass der belarussische Grenzschutz nicht in der Lage ist, alle illegalen Grenzübertritte zu verhindern. Er gab fehlenden "technischen Einrichtungen" die Schuld an "einigen verwundbaren Punkte an mehreren Stellen unserer Staatsgrenze".
Der oberste belarussische Grenzschützer betonte, "illegale Aktivitäten an der Grenze der Republik Belarus zu verhindern" habe Priorität. "Zugleich ist das Land offen für jeden Bürger jeden Landes, der legal nach Belarus einreist. Wir unterscheiden nicht zwischen Migranten und Nicht-Migranten, wir schaffen für sie keine Hürden, das Land zu durchqueren", erklärte Filatow. Ein indirektes Eingeständis der Praxis?
Angespanntes Verhältnis zwischen Nachbarn
In jedem Fall sind die Beziehungen zwischen Litauen und Belarus seit den Protesten extrem angespannt. Der baltische Staat führte die Forderungen nach Sanktionen gegen Minsk innerhalb der Europäischen Union an und nahm Dutzende belarussische Regierungskritiker auf, darunter die Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowsjaka.
Landsbergis vermutet, dass Belarus Litauen deshalb unter Druck setzen will. "Wir sind äusserst besorgt darüber, dass das belarussische Regime als Vergeltung für die Unterstützung der belarussischen Zivilgesellschaft Handlungen gegen seine Nachbarn eskalieren lässt", heisst es in der Erklärung des Aussenministeriums an unsere Redaktion.
Litauen will das Thema nun beim kommenden Treffen des EU-Aussenministerrats am 21. Juni ansprechen. Das Aussenministerium warnt die anderen Mitgliedsstaaten: "Wir sollten wachsam bleiben und vorbereitet sein – das belarussische Regime ist ein unberechenbares und wir müssen auf alles vorbereitet sein."
Verwendete Quellen:
- Schriftliche Anfragen an das litauische Aussenministerium und an "Nexta"-Chefredakteur Tadeusz Giczan
- Youtube: "Protasevich answers questions of the fellow journalists, Ryanair case, exclusive / MFA Briefing" (Belpresscenter)
- Financial Times: "Belarus ‘weaponising’ illegal migration, Lithuania says"
- Delfi.ru: "Белорусские пограничники скрывают следы нелегальной миграции: это удалось снять на видео"
- Belta: "Iraqi airline Fly Baghdad to fly to Minsk from 10 May"
- Webseiten der Fluglinien
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