2014 sorgte die Entführung von 276 Mädchen aus einer Schule für einen weltweiten Aufschrei. Zehn Jahre später sind noch immer Mädchen davon in Gefangenschaft, andere freigekommen aber für immer gezeichnet. Hinter der Tat steckt die Terrormiliz Boko Haram. Was die Extremisten planen und wie sie den nigerianischen Staat in Schach halten.
Die Ereignisse vor zehn Jahren sorgten für internationales Entsetzen: Mitten am Tag entführten damals islamistische Terroristen der Gruppe "Boko Haram" 276 Mädchen aus einer weiterführenden Schule in der Stadt Chibok im Nordosten Nigerias. Noch immer befinden sich fast 100 der damals entführten Mädchen in Gefangenschaft.
Die befreiten jungen Frauen kämpfen mit Stigmatisierung und Traumata durch sexuelle Gewalt, manche haben in ihrer Geiselhaft Kinder geboren und wurden zwangsverheiratet. Und diese dramatischen Entführungen sind kein Einzelfall.
Erst im März dieses Jahres wurden bei einem Überfall auf eine Schule in Kuriga im Nordwesten des Landes erneut knapp 280 Kinder und Jugendliche für Lösegelderpressungen entführt. Sie sind inzwischen wieder frei.
Entführungen als Wirtschaftszweig
"Entführungen sind inzwischen ein gesamt-nigerianisches Problem", sagt auch Nigeria-Experte Lukas Laible von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Allein in diesem Jahr seien Schätzungen zufolge bereits über 1.000 Menschen entführt worden. Die Gefahr hat zur Schliessung von über 600 Schulen im Norden des Landes geführt.
"Die Entführungen sind zu einem Wirtschaftszweig geworden. Nigeria durchlebt eine wirtschaftliche Krise, die für viele Menschen ein existenzielles Ausmass annimmt. Über 65 Prozent der Bevölkerung sind direkt oder indirekt von Armut betroffen", erklärt er.
Hinter den Entführungen stecken kriminelle bewaffnete Banden, aber nicht selten auch die Terrormiliz "Boko Haram". Für die "nigerianischen Taliban" ist es ein leichtes, neue Anhänger zu finden: "Die Währung ist in den letzten Monaten stark gefallen, die Spritpreise sind sehr stark gestiegen und die Inflation lag zum Jahresbeginn bei über 30 Prozent. Die wirtschaftliche Lage und die hieraus entstehende Perspektivlosigkeit hat zu dieser massiven Zunahme von Entführungen geführt", beobachtet Laible.
Dabei würden etwa einzelne Mitglieder von Gemeinden entführt, das aufzubringende Lösegeld werde dann von der ganzen Gemeinde zusammengelegt. "Die wirtschaftliche und persönliche Perspektivlosigkeit kann als ein Grund dafür angesehen werden, dass junge Menschen in die Arme von Extremisten getrieben werden", sagt der Experte.
An den IS angeschlossen
Boko Haram ist eine in den 2000er-Jahren entstandene islamistische Terrororganisation, die sich 2015 dem IS anschloss und als mit dem internationalen Terror vernetzt gilt. Ihr werden mindestens einige tausend Kämpfer zugerechnet.
"‘Boko Haram‘ bedeutet übersetzt so viel wie: ´Westliche Bildung ist schlecht`. Der Anschluss an den IS kommt aus einer solchen Grundstimmung – man möchte neue staatliche Strukturen schaffen, in Ablehnung des westlichen Modells", so der Experte.
Ziel der Islamisten: In ganz Nigeria einen islamischen Staat mit Scharia zu etablieren. Dabei gehen sie mit Autobomben, Selbstmordattentaten und Morden vor und ziehen eine Blutspur durch ganz Nigeria. 2011 erschütterte ein Anschlag mit 20 Toten das UN-Gebäude in Nigerias Hauptstadt Abuja.
"2016 spaltete sich aus der ursprünglichen Boko-Haram-Bewegung die Bewegung ´Islamic State of West-Africa Province` (ISWAP) ab", sagt Laible. Seitdem befinden sich die beiden Gruppen in einem permanenten Konflikt miteinander. Im Kampf zwischen den beiden Fraktionen sind mehr Menschen ums Leben gekommen als im Kampf gegen den nigerianischen Staat.
Gefahr für die Bevölkerung
"Im Jahr 2021 konnte die ISWAP einen relativ grossen Erfolg feiern – sie tötete den Anführer von Boko Haram, Abubakar Shekau. Boko Haram konnte im Anschluss dennoch wieder Kräfte sammeln", analysiert Laible.
Im Jahr 2022 verübte ISWAP einen Anschlag auf ein Gefängnis in Abuja und erreichte eine Befreiung von ihren Kämpfern. "Die Durchführung der Befreiung in der nigerianischen Hauptstadtregion stellte dabei eine neue Dimension dar", ordnet Laible ein.
In Nigeria würden 89 Prozent der weltweit wegen ihres Glaubens getötete Christen registriert. Von den beiden Fraktionen würden allerdings mehr Muslime als Christen getötet. "Boko Haram und ISWAP sind eine Gefahr für die lokale Bevölkerung, in Nigeria, aber auch in den angrenzenden Ländern", so Laible.
Der neue Führer von Boko Haram, Bakura Modu, sei derzeit offensichtlich in der Lage, Boko Haram wieder neu aufzubauen und strukturell zu stärken.
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Staat wirkt hilflos
Der nigerianische Staat befände sich im Kampf gegen Boko Haram, leide jedoch unter multiplen Sicherheitsherausforderungen – eine davon: die Bekämpfung islamistischer Terrorgruppen im Nordosten.
"Weitere Sicherheitsprobleme im Land sind beispielsweise die ausufernde Bandenkriminalität, ein Konflikt zwischen muslimischen Hirten und christlichen Bauern sowie Sektionsbewegungen im Südosten des Landes", sagt Laible.
Die Fähigkeit von Boko Haram und ISWAP, auf andere schwelende Konflikte Einfluss zu nehmen, sei in den letzten Jahren zu beobachten. "Das setzt die Gesamtsicherheitsarchitektur Nigerias immer weiter unter Druck", warnt er.
Konflikte instrumentalisiert
Die islamistischen Terroristen hätten es zum Beispiel geschafft, muslimische Hirten zu beeinflussen und zu infiltrieren. Der Grundkonflikt zwischen sesshaften christlichen Bauern und nomadischen muslimischen Hirten habe sich primär um die Frage der Verteilung von Land gedreht.
"Boko Haram hat die religiöse Zugehörigkeit der Nomaden genutzt, um diesem Ressourcenkonflikt um Land, auch eine religiöse Komponente aufzuladen", erläutert Laible. Es gehe dabei um einen Konflikt mit über 100.000 Toten, der jedoch in der Welt wenig beachtet werde.
"Nigeria ist ein sehr komplexes Land und all diese Herausforderungen sind stark miteinander verwoben", erklärt er. Die Lösung des Hirten-Bauern-Konflikts über einen religiösen Ansatz scheine dabei wenig erfolgversprechend, da der zugrundeliegenden Auslöser des Konflikts in der Verteilung um Ressourcen liegt.
Das trifft auch allgemein auf die Bekämpfung von Terror in Nigeria zu: Es bräuchte endlich politische und wirtschaftliche Reformen, die finanziell nicht nur kurzfristig ausgestattet sind, damit junge Menschen nicht weiter in die Arme von Extremisten getrieben werden.
Über den Gesprächspartner:
- Lukas Laible ist stellvertretender Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung Nigeria.
Verwendete Quellen
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