Der Senat beschliesst ein Gesetz, das Zugriff auf indigene Gebiete erleichtern könnte. Umwelt- und Indigenenorganisationen zeigen sich entsetzt, während konservative Parlamentarier Widerstand ankündigen. Ein Verfassungsrechtler sieht Potenzial für eine handfeste Staatskrise.

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Der brasilianische Kongress will die weitere Ausweisung von Indigenen-Schutzgebieten begrenzen, um mehr Spielraum für wirtschaftliche Aktivitäten in der Amazonasregion zu schaffen. Das Problem dabei: Wenige Tage vor dem Beschluss hatte das oberste Verfassungsgericht, der Supremo Tribunal Federal (STF), die Voraussetzungen, auf denen das Gesetz basiert, als verfassungswidrig eingestuft.

Nun droht zwischen Legislative und Judikative ein offener Konflikt, der für das grösste Land Südamerikas politischen Zündstoff birgt. Denn es geht um nicht weniger als die grundsätzliche Frage: Wie politisch dürfen die Entscheidungen eines Verfassungsgerichts sein?

Die Amazonasregion ist seit jeher der natürliche und historische Lebensraum indigener Völker. Doch der grosse Naturraum weckt auch seit jeher Begehrlichkeiten. In seinem Boden werden nicht nur grosse Mengen an Erzen und Edelmetallen vermutet, das riesige Gebiet, das zwei Drittel der Fläche Brasiliens ausmacht, ist vor allem für Holzfäller und Rinderzüchter attraktiv. Denn: Bei einem beträchtlichen Teil der Flächen sind die Eigentumsverhältnisse nach wie vor unklar.

In Brasilien gibt es derzeit 600 Indigenengebiete

Zwar hat die brasilianische Bundesregierung schon vor Jahren damit begonnen, Schutzgebiete für indigene Völker auszuweisen - sie zu demarkieren -, doch längst konnten nicht alle strittigen Fragen geklärt werden. In Brasilien gibt es derzeit 600 Indigenengebiete, in denen 227 indigene Völker mit rund 480.000 Menschen leben. Die Gebiete machen etwa 13 Prozent der Landesfläche aus. Würden alle noch vorliegenden Demarkationsanträge genehmigt, würde sich die Fläche auf 30 Prozent erhöhen.

Bislang war umstritten, bis zu welchem Zeitpunkt in der Vergangenheit indigene Besitzansprüche zu berücksichtigen sind – obwohl die Verfassungsgebende Versammlung 1987 versucht hatte, die fortwährende Diskussion zu beenden, indem sie das Inkrafttreten der aktuell gültigen Verfassung im Jahr 1988 als Bezugszeitpunkt festlegte.

Eine Festlegung, die vor allem während der Zeit der linken Regierungen unter Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff erneut politisch infrage gestellt wurde. Die Folge: Die vermeintlich ungenaue Rechtslage machten sich Viehzüchter und Glücksritter zunutze, besetzten Flächen und schufen damit Fakten – ein Trend, den die Politik von Ex-Präsident Jair Bolsonaro noch verstärkt hatte.

Umwelt- und Indigenenschutz: Auf den Jubel folgte die Ernüchterung

Anfang Juni passierte das Gesetz mit der Kennung PL490 die Abgeordnetenkammer und wurde an den Senat weitergereicht. Dem Senatsvotum kam nun aber das Verfassungsgericht mit seiner Neubewertung zuvor.

Zunächst jubelten Umwelt- und Indigenenschutzorganisationen und sprachen von einem Meilenstein. Bald folgte die Ernüchterung: "Aufgrund des Rückschlags, den das Gesetz für den Kampf gegen den Klimawandel, für den Schutz der Artenvielfalt und vor allem für die Rechte der indigenen Völker darstellt, fordert der WWF, dass Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ein vollständiges Veto gegen das Gesetz einlegt", sagte Konstantin Ochs, Projektmanager Südamerika beim WWF Deutschland.

Nur so könne der Präsident sein im Wahlkampf versprochenes und nach seinem Amtsantritt mehrfach bekräftigtes Engagement für die indigenen Völker und vor allem für eine gesunde Zukunft aller Brasilianer bestätigen.

Kritiker: "Der Oberste Gerichtshof behandelt die Agenden der Agrarindustrie als ideologische Fragen"

Die Organisation Survival International wird noch deutlicher als der WWF: "Die Verabschiedung des Gesetzesentwurfs zeigt, dass die Landwirte bereit sind, die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu ignorieren und zu versuchen, den 'Stichtag-Trick' und weitere Angriffe auf indigene Völker um jeden Preis umzusetzen."

Befürworter des PL490 sehen in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs hingegen eine politische Einflussnahme, die dem Gericht nicht zustehe. "Der Oberste Gerichtshof behandelt die Agenden der Agrarindustrie als ideologische Fragen", sagte der Senator Marcos Rogério. Er gehört dem Partido Liberal (PL) an - jener Partei, für die auch Bolsonaro ins Präsidentschaftsrennen ging.

"Der (darin definierte; Anm. d. Red.) Zeitrahmen nimmt den indigenen Völkern nicht ihre Rechte weg, sondern garantiert lediglich ein objektives Kriterium für die Umsetzung einer Politik“, teilte der Vorsitzenden der Parlamentarischen Agrarfront (FPA), der Bundesabgeordnete Pedro Lupion (PP-PR) per Pressemitteilung mit. Er sieht in der Genehmigung "einen Sieg für das Volk" und kündigte an: "Wenn der Präsident sein Veto einlegt, wird der Kongress es kippen."

Die Entscheidung sei ein wichtiger Sieg für den Nationalkongress, der das Volk vertrete. "Wir lösen damit einen Konflikt, der die Landbevölkerung spaltet und die Eigentumsrechte schwächt. Wenn sie ihr Veto einlegen, werden wir es kippen", sagte Lupion in einer offiziellen Stellungnahme der FPA, die zugleich noch knapp zwei Dutzend weitere parlamentarische Interessensgruppen und Parteien unterzeichneten.

Der STF ist ein politisch beeinflussbares Gremium

Präsident Lula könnte das Gesetz mit einem Veto kippen, kündigte auch bereits an, dies zu tun. Damit könnte er zumindest einen zeitlichen Aufschub erwirken.

Der rechtskonservative Kongressabgeordnete Marcel van Hattem schrieb im Kurznachrichtendienst X: "Nur zum Verständnis: Diese 'politische' Entscheidung des Obersten Gerichtshofs diente nur dazu, mehr Argumente für den Bürgerkrieg zu liefern, den die PT für Brasilien vorbereitet." Deshalb sei die Kammer nun blockiert, sodass es aus seiner Sicht kein institutionelles Chaos mehr gebe.

Der Oberste Gerichtshof hatte sich in der Vergangenheit, vor allem während der Amtszeit Bolsonaros, in einigen Situationen als politische Kraft erwiesen und Entscheidungen einkassiert, die Bolsonaro per Dekret durchboxen wollte. Auch die Annullierung der Haftstrafe von Lula da Silva wurde und wird weiterhin insbesondere bei Konservativen als eine politische Entscheidung gewertet.

Tatsächlich ist der STF, der grundsätzlich nur über die Verfassungsmässigkeit zu befinden hat, ein politisch beeinflussbares Gremium. Die elf Richter des Gremiums werden vom amtierenden Präsidenten vorgeschlagen und passieren danach in aller Regel die Senatskommission. Während der PT-Regierung von 2003 bis 2016 und seit Jahresbeginn wurden insgesamt neun der elf Richter von Lula beziehungsweise PT-geführten Regierungen ernannt.

Verfassungsrechtler: "Die Menschen fühlen keine Rechtssicherheit für ihr Privateigentum"

Die Konfliktlinie verläuft nicht nur im Parlament zwischen Regierung und konservativer Opposition, sondern zugleich zwischen Parlament und Justiz. Für den Verfassungsrechtler Marco Aurélio Peri Guedes eine heikle Situation, die eskalieren und eine Verfassungskrise heraufbeschwören könnte. "Die Landwirtschaftslobby im Parlament hat sich mit vielen anderen Lobbys verbündet, einschliesslich des Centrão (der parlamentarische Regierungsblock; Anm. d. Red.) und beschlossen, die Tagesordnung im Parlament zu blockieren."

Dafür wurde schnell ein Gesetz verabschiedet, mit dem die Entscheidung der STF ausgehebelt werden sollte. "Es steht eine grosse institutionelle Krise bevor", befürchtet Peri Guedes, "denn es wird eine Verfassungsänderung ausgearbeitet werden, um die Befugnisse des STF und das Mandat der Richter einzuschränken."

Für die möglicherweise betroffenen Landwirte kann er Verständnis aufbringen. "Die Menschen fühlen keine Rechtssicherheit für ihr Privateigentum." Wie schon bei den von ehemaligen Sklaven besetzten Ländereien reiche ein Bericht von Anthropologen, um einer Gemeinschaft Land zuzusprechen. Das Gleiche werde wohl nun auch in diesem Fall mit den Indigenen geschehen.

Und die Folgen wären theoretisch noch weitreichender. Grundsätzlich könnte so jedes Eigentum auf den Prüfstand gestellt werden. "Der STF hat seine Befugnisse überschritten, denn es gab bereits eine parlamentarische Regelung zu indigenem Land in der Verfassung von 1988. Jetzt haben sie eine weitere Regelung hinzugefügt." Dieses Vorgehen könne Befürchtungen schüren, dass der STF im Grunde alle verfassungsmässigen Regelungen neu verhandeln und interpretieren könne. "Die Verfassung hat ihren Wert und ihre Bedeutung verloren."

Verwendete Quellen:

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