Fast 150 Millionen Brasilianer sollen Anfang Oktober einen neuen Präsidenten wählen – die zweitgrösste Demokratie Amerikas steht dabei vor einer Zerreissprobe.

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Linker Personenkult gegen rechten Law-and-Order-Populismus – zwischen diesen Polen bewegt sich der Wahlkampf in Brasilien zu Beginn der heissen Phase.

In den Umfragen führen zwei Politiker, die das grösste Land Südamerikas spalten: Der inhaftierte Luiz Inácio Lula da Silva (72), Ex-Präsident (2003-2010) und unerschütterlicher Volkstribun, und der rechte Herausforderer Jair Messias Bolsonaro. Noch immer liegt Ersterer weit vorn in den Umfragen, die Zustimmung stieg zuletzt sogar.

Ob er am Ende antreten darf, ist seit den frühen Morgenstunden unwahrscheinlicher denn je. Der oberste Wahlgerichtshof entschied in einer achtstündigen Sitzung dagegen, die Kandidatur Lulas zuzulassen. Damit wäre er aus dem Rennen.

Als letzte Hoffnung bleibt ihm eine Berufung, die seine Anwälte bereits angekündigt haben. Doch Lula läuft die Zeit davon: Gewählt wird schon in einem guten Monat.

Lula: Wahlkampf ohne Inhalte

Lula ist Ex-Gewerkschafter und Ex-Präsident, seine Partei, die Arbeiterpartei PT, inszeniert ihn messiasartig. Kaum Inhalte bestimmen die Wahlkampstrategie, vor allem geht es um seine Person.

Dabei ist es nach wie vor unwahrscheinlich, dass Lula überhaupt gewählt werden kann. "Ficha Limpa", übersetzt saubere Akte, lautet der Name des Gesetzes, das dies verbietet. Er hat es selbst in Kraft gesetzt, nun verbietet es ihm die Kandidatur. Denn Lula ist in zweiter Instanz wegen Vorteilsnahme zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden.

Er bestreitet die Vorwürfe nach wie vor. In der Berufung steht eine Entscheidung noch aus. Somit, so argumentieren seine Unterstützer, müsse bis zum Schluss die Unschuldsvermutung gelten und er antreten dürfen.

PT-Chancen ohne Lula eher gering

Sollte die Entscheidung für ihn ausfallen stünde er zum sechsten Mal zur Wahl. Nach drei Misserfolgen in den 1990er-Jahren schaffte er es, wurde 2003 Nachfolger Fernando Henrique Cardoso und führte Brasilien in ein wirtschaftlich erfolgreiches Jahrzehnt.

Und: Auch ärmere Bevölkerungsschichten, nach wie vor der grösste Bevölkerungsteil, bekamen etwas vom Aufschwung ab. Der Mindestlohn stieg und die Regierung startete das Sozialprogramm "bolsa familia" für einkommensschwache Familien. Vor allem deswegen ist Lula beliebt wie kein anderer Politiker Brasiliens.

Die PT hofft fast schon verzweifelt auf seine Freilassung. Denn ohne ihn wird es schwer die Wahl zu gewinnen. Dann dürfte Fernando Haddad antreten. Er war von 2005 bis 2012 Lulas Bildungsminister und danach bis 2017 Bürgermeister von São Paulo.

Im Rest des Landes ist er aber eher unbekannt, weswegen es auch fraglich ist, ob die potentiellen Lula-Wähler tatsächlich auf ihn eingeschworen werden könnten.

Jair Bosonaro gibt den Hardliner

Wahrscheinlicher ist, dass vor allem der rechte Jair Bolsonaro von einem Lula-Ausschluss profitieren würde. Zuletzt lag er in Umfragen mit 22 Prozent vorne - wenn man Lula komplett aus der Wertung herausnehmen würde. Damit läge er an der Spitze. Ein Startplatz in der Stichwahl am 28. Oktober erscheint damit fast sicher.

Politisch war er stets ein Hinterbänkler, zwar seit 1990 Abgeordneter für insgesamt neun Parteien, aber in dieser Zeit brachte Bolsonaro gerade einmal zwei Anträge ein.

Seine Bekanntheit verdankt er vor allem seinem Auftreten als Hardliner, er beleidigt und erniedrigt Frauen, Indigene, Homosexuelle, wettert gegen Abtreibung und bekundet seine Sympathie für die Diktatur.

Mit ihm, so seine Botschaft, werde in der Politik aufgeräumt, werde mit harter Hand Recht und Ordnung wiederhergestellt.

Im Falle eines Wahlsiegs will er zudem aus dem Klimaabkommen von Paris austreten und Kindern den Umgang mit Waffen beizubringen. Töne, wie man sie noch aus dem Wahlkampf von US-Präsident Donald Trump kennt und die die Handschrift von Steve Bannon tragen, dem früheren strategischen Berater im Weissen Haus. Ihn holte sich Bolsonaro zur Hilfe.

Bolsonaro lebt vom Zeitgeist. Die Wirtschaftskrise, Korruptionsskandale und die angestiegene Gewalt treiben Bolsonaro die Wähler in die Arme, die sich einen starken Staat wünschen, in dem auch das Militär präsenter sein soll.

Symbolisch dafür holte sich der ehemalige Fallschirmjäger Bolsonaro als Kandidat für das Vize-Präsidentenamt den General Antonio Hamilton Mourão ins Boot.

Bosonaro hat gleich mehrere Probleme

Die Wahl dürften am Ende aber andere Themen entscheiden. In einer Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens Datafolha bezeichnen 37 Prozent eine Verbesserung des Arbeitsmarkts als vordringlichstes Thema. Ebenfalls oben auf der Agenda: Erhöhung der Mindestlöhne (33 Prozent), Inflationskontrolle (32 Prozent) oder der Wunsch nach mehr Jobs (30 Prozent) – fast alles klassische linke Themen.

Der Kampf gegen Korruption (23 Prozent) und das Thema Gewalt (18 Prozent) stehen da eher hinten an.

Bosonaro hat noch zwei weitere Probleme: So kommt sein harter populistischer Kurs gerade bei Frauen überhaupt nicht gut an. Umfragen zeigen, dass mehr als 40 Prozent der Frauen ihre Stimme auf gar keinen Fall Bolsonaro geben wollen.

Zudem kandidiert Bolsonaro für eine relativ kleine Partei, die PL. Da sich aber die Länge und Anzahl der Wahlwerbesport im TV sich nach der Grösse der Parteien richtet, hat er wenig Chancen, auf diesem Weg viele Brasilianer zu erreichen.

Geraldo Alckmin: Der Aussenseiter

Ganz anders ist die Lage bei Geraldo Alckmin. Er war zuletzt Gouverneur des wirtschaftsstarken Bundesstaats São Paulo, streitet sich zurzeit mit den Kandidaten Marina Silva und Ciro Gomes um die zweite Position - wenn Lula herausgerechnet wird.

Er gilt als nüchterner, erfahrener aber auch blasser Verwaltungsmensch, versteht sich aber auf das Schmieden von Allianzen. Alckmin, eigentlich in der sozialliberalen PSDG, hat sich bereits mit neun Parteien zusammengeschlossen, die das sogenannte "grosse Zentrum" (Centrão) bilden. Diesen gehören 255 Unterhausabgeordnete an, fast die Hälfte aller Abgeordneten (513).

Damit hat er die mit Abstand grösste Reichweite - auch bei der strategisch wichtigen TV-Werbung. Deren Sendeanteil richtet sich nach dem prozentualen Abschneiden bei der letzten Wahl. So kommt Alckmin auf fast die Hälfte der Sendezeit, während Bolsonaro nur auf wenige Sekunden kommt.

TV-Spots sind nach wie vor die wichtigste Informationsquelle. 38 Prozent der Brasilianer informieren sich überwiegend über das Fernsehen. Es ist das einzige Medium, das sämtliche Ecken des Riesenlandes erreicht. Das Internet, wo Bolsonaro die grösste Reichweite erzielt, ist nur bei 17 Prozent die Hauptquelle der Information, zudem gerade in ländlichen Gebieten längst nicht überall empfangbar.

Alckmins Name wurde immer wieder im Zuge der Korruptionsermittlungen Lava Jato genannt. Hauptsächlich von Gegnern, die Ermittlungen gegen ihn gerne sähen. Hinter dem Begriff verbergen sich seit März 2014 laufende Korruptionsermittlungen der Justiz, die ein milliardenschweres, inzwischen internationales Bestechungsnetzwerk zwischen der brasilianischen Politik und Industrie offenbarten.

Zig zum Teil hochrangige Politiker wurden bislang verurteilt – gegen mehr als 100 Minister, Senatoren, Bundesabgeordnete laufen noch Verfahren und es kommen immer weitere hinzu. Bislang taucht Alckmin dort nicht offiziell auf.

Nur wenn das so bleibt - und wenn Lulas Kandidatur wirklich unterbunden wird - könnte er mehr als Aussenseiterchancen haben.

Verwendete Quellen:

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