Wie weit muss ein Staat gehen, um seine Angehörigen aus einer misslichen Lage zu befreien? Zumal, wenn sie sich selbst sehenden Auges in diese Lage manövriert haben? Und muss man eine IS-Braut zurück ins Land holen, nur weil sie eine bestimmte Staatsbürgerschaft hat? Diese Frage versucht aktuell ein Gericht in Österreich zu klären. Es ist … kompliziert.
Vor ziemlich genau zehn Jahren traf Maria G. eine folgenschwere Entscheidung: Am 28. Juni 2014, damals 17 Jahre alt, stieg sie am Salzburger Flughafen in einen Flieger Richtung Türkei. Sie reiste weiter nach Syrien, schloss sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" an. Sie heiratete einen IS-Kämpfer, bekam zwei Kinder.
2019 wurde G. bei Kampfhandlungen des IS gefangen genommen. Seither ist sie in einem kurdischen Gefangenenlager im Norden Syriens untergebracht.
Rückblende.
Maria G. wächst in Hallein auf, einer beschaulichen Kleinstadt im Salzburger Tennengau. Rund 22.000 Menschen wohnen hier, der Grossteil von ihnen ist katholisch. Gleichzeitig ist Hallein die Stadt mit der grössten muslimischen Gemeinde im Tennengau.
Ein Unfall in einem Vergnügungspark im Alter von zwölf Jahren habe sie aus der Bahn geworfen, schildern ihre Eltern in einer Folge von "Hörbilder" des Radiosenders Ö1. Sie habe die Schule abgebrochen, sich plötzlich für den Islam interessiert.
Maria G. radikalisiert sich. Ihr damaliger Freund ist Moslem, flüchtete als Teenager aus Somalia nach Österreich. Anders als sie sei er nicht besonders religiös, erzählt der Ex-Freund dem Radiosender. Von ihrem Plan, nach Syrien zu gehen, habe sie ihm gegenüber nie etwas erwähnt. Lediglich, dass sie Kindern helfen wolle.
Gegen den Willen ihrer Eltern konvertiert Maria G. zum Islam. Sie besuchte zwei Moschee-Vereine in Salzburg. Womöglich ein grösserer Mosaikstein in dem Rätsel um G.s Radikalisierung: In beiden Vereinen sollen radikale Prediger gesprochen haben, die inzwischen von Gerichten verurteilt wurden.
Ab 2015 wird Maria G. per europäischem Haftbefehl gesucht
Maria G. heiratet bald nach ihrer Ankunft in Syrien einen IS-Kämpfer, doch dieser stirbt bereits nach zweieinhalb Monaten. Es folgt eine zweite Hochzeit, G. wird schwanger und bringt im November 2015 ihren ersten Sohn zur Welt.
Ebenfalls ab 2015 wird G. per europäischem Haftbefehl gesucht. Die Staatsanwaltschaft Salzburg hat diesen beantragt. Ihr wird Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung (Paragraf 278b StGB) sowie Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation (Paragraf 278a StGB) vorgeworfen.
G. habe sich freiwillig dem IS angeschlossen und sei "in dessen Herrschaftsbereich nach Syrien gereist, wo sie sich bis zum heutigen Tage aufhält", hiess es damals auf der Website des Bundeskriminalamts.
Maria G.s Eltern wollten Tochter und Enkel nach Österreich zurückholen
Seit Anfang 2019 sitzt Maria G. in einem kurdischen Gefangenenlager im Norden Syriens fest, zusammen mit ihren Söhnen, heute acht und sechs Jahre alt. Und seither versuchen ihre Eltern, ihre Tochter aus Syrien zurückzuholen – bisher erfolglos.
Das österreichische Aussenministerium verweigert G. bisher die Rückholung, ebenso wie anderen erwachsenen IS-Anhängern. Die Kinder könne man hingegen zurückholen; auch sie sind österreichische Staatsbürger. Das Ministerium entschied im Herbst, G. habe sich freiwillig der Terrormiliz IS angeschlossen. "Es liegt somit eindeutig ein besonders hoher Grad der Eigenverschuldung vor", heisst es im September 2023 in einer Mitteilung über den Bescheid.
Gegen diesen Bescheid des Ministeriums versucht G.s Familie nun vorzugehen: Die Eltern brachten Beschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht in Wien ein. Ende Juni (28.06.) wurde dazu acht Stunden lang verhandelt. Eine Entscheidung soll in den kommenden Wochen schriftlich ergehen.
Anwältin der Familie hält Entscheidung des Aussenministeriums für rechtswidrig
Der Umstand, dass die Republik Österreich nur Maria G.s Söhne, nicht aber die Mutter zurückholen will, ist auch für den Völkerrechtsexperten Manfred Nowak nicht tragbar. Österreich habe die völkerrechtliche Verpflichtung, "seine eigenen Staatsangehörigen – und das sind alle drei – nach Österreich zurückzuholen", sagte er dem ORF.
"Wir erachten die Ermessensentscheidung des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten für rechtswidrig – dies gilt insbesondere für die beiden Söhne von G.", sagte die Anwältin von Maria G.s Familie, Doris Hawelka, im Rahmen der Anfechtung der Entscheidung des Aussenministeriums. G. sei bei ihrer Ausreise minderjährig gewesen – eine Ausreise ohne Zustimmung der Eltern hätte somit gar nicht möglich sein dürfen.
Seit September 2020 befindet sich Maria G. im kurdischen Gefangenenlager Roj. Dort herrschen nach Angaben von Nicht-Regierungsorganisationen unhaltbare Zustände: Es fehle an Wasser, Nahrung, Hygieneeinrichtungen und Gesundheitsversorgung. Der Grossteil der Kinder gehe nicht zur Schule. Die Camps seien überfüllt, Krankheiten und Gewalt an der Tagesordnung.
Laut der Kinderrechtsorganisation Save the Children befinden sich mit Stand Ende März 2024 immer noch mindestens 6.160 Kinder mit ausländischer Staatsbürgerschaft in den Camps Al Hol und Roj. Fast die Hälfte der Insassen in Al Hol seien Kinder im Alter von unter zwölf Jahren, teilte UNO-Generalsekretär António Guterres Anfang März 2023 mit. In Roj dürfte die Lage nicht besser sein. 2021 gaben die UN die Prozentzahl der unter Zwölfjährigen in den syrischen Gefangenenlagern sogar mit 77 Prozent an.
Maria G. ist sich bewusst, dass ihr in Österreich Gefängnis droht
Auch Maria G. sorge sich vor allem um ihre Kinder, sagte Thomas Schmidinger, der vor dem Bundesverwaltungsgericht aussagte. "Mein Eindruck von ihr war, dass sie sehr verschüchtert und ein bisschen verzweifelt gewirkt hat", schilderte der Politikwissenschaftler eine Begegnung mit G. im Jahr 2022. Sie habe sich Sorgen gemacht, dass ihre Kinder im Camp verrohten und keine Schule besuchen könnten.
G. sei sich darüber bewusst, dass sie in Österreich ein Strafverfahren und mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gefängnisstrafe erwarte – wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation.
Roj sei mit einem "Internierungslager" zu vergleichen, sagte der Experte vor Gericht. G. und ihre Söhne befänden sich in einem haftähnlichen Zustand, dessen Ende nicht absehbar sei. "Sie sitzt da lieber in Österreich in Haft und weiss, wann die Haft zu Ende ist", sagte Schmidinger, der sich auf die Region spezialisiert hat.
Frage betrifft fast alle europäischen Staaten
Die Frage, die das Bundesverwaltungsgericht nun zu beantworten hat, ist kein Einzelfall. Zahlreiche europäische Staaten müssen einen Umgang mit Frauen finden, die sich dem IS angeschlossen haben.
Ist der politische Wille da, funktioniert eine Rückführung relativ einfach. "Die Person muss vom jeweiligen Aussenministerium angefordert werden und von einer befugten Delegation dieses Staates entgegengenommen werden", erklärte Schmidinger.
Fionnuala Ni Aolain spricht sich ebenfalls für eine Rückholung aus. Die irische Juristin ist UNO-Sonderberichterstatterin für den Schutz der Menschenrechte bei der Terrorismusbekämpfung. Bei "Hörbilder" spricht sie von einer "Verpflichtung nach internationalem Recht" seitens der europäischen Staaten. Aber auch aus "Gründen der Sicherheit und der Wiedereingliederung der Kinder" sei eine Rückholung von Müttern und ihren Kindern "das Klügste, was man tun kann".
Einige europäische Länder wie Frankreich und Deutschland würden diesen Weg bereits gehen. Österreich zögert. Noch. Bisher wurden vier Kinder ins Land zurückgeholt, 2019 und 2022. Es handelte sich um zwei Geschwisterpaare, deren jeweiliger österreichischer Elternteil verstorben war.
Verwendete Quellen
- Orf.at: Neuer Anlauf für Rückholung von Maria G.
- Orf.at: Prozess um IS-Rückkehrerin
- Save the Children: Syria: Almost 50% Fewer Repatriations So Far This Year of Foreign Children Trapped in Unsafe Camps, Fife Years Since Fall of Isis
- Vereinte Nationen: Secretary-General's remarks to press outside Jeddah Rehabilitation Centre in Iraq
- Vereinte Nationen: UN launches initiative to support returnees trapped in Syria camps
- Austria Presse Agentur
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