Die Volksinitiative "Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer" lässt die Wogen hoch gehen. Die Anzahl von Manifesten, Appellen und Aufrufen gegen diese SVP-Initiative ist sprunghaft angewachsen. Kein anderer Vorstoss der SVP der letzten 25 Jahre hat die politischen Gegner derart mobilisiert wie die so genannte Durchsetzungsinitiative.
"Wir rufen alle Schweizerinnen und Schweizer, alle verantwortlich denkenden Bürgerinnen und Bürger, alle, die sich als Teil der Schweizer Zivilgesellschaft betrachten, dringend dazu auf, am 28. Februar 2016 die Durchsetzungsinitiative der SVP zurückzuweisen." Mit diesen Worten beginnt ein dringender Aufruf, der Ende Januar von 200 Personen lanciert wurde, darunter bekannte Architekten, Künstler und Schriftsteller wie Mario Botta, Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Adolf Muschg, Peter Bichsel, Michael Steiner, Pipilotti Rist, Emil Steinberger und Dimitri.
Für die Unterzeichner dieses Aufrufs ist die SVP-Durchsetzungsinitiative schlicht "barbarisch", weil sie die Prinzipien eines Rechtsstaates und den Gleichheitsgrundsatz verletzt.
Die SVP-Initiative verlangt, dass straffällig gewordene Ausländer automatisch ausgewiesen werden, unabhängig von der Schwere des Vergehens und dem zugemessenen Strafmass. Auch auf soziale oder menschliche Härtefälle soll keine Rücksicht genommen werden.
Der Aufruf "gegen die unmenschliche SVP-Initiative" wurde innerhalb weniger Tage von fast 50'000 Personen unterzeichnet. Fast 800'000 Franken an Spenden kamen zusammen, um eine Plakatkampagne in den wichtigsten Bahnhöfen der Schweiz zu finanzieren. So etwas hat es noch nie gegeben.
Nur ein Aufruf unter vielen
Dabei handelt es sich bei diesem "dringlichen Aufruf" nur um einen Appell unter vielen. Es gibt auch ein Manifest, das von 161 Professorinnen und Professoren der rechtswissenschaftlichen Fakultäten, von elf ehemaligen Ministern und mehr als 270 Parlamentariern und Ex-Parlamentariern unterzeichnet wurde.
Weitere vier Komitees sowie mehrere Kantonsregierungen haben sich gegen die Initiative ausgesprochen.
Diese massive Mobilisierung gegen die Initiative scheint die SVP nicht zu beeindrucken. Die Partei ist es gewohnt, alleine gegen alle zu kämpfen.
"Dieser Widerstand macht mir keinen Eindruck", sagte dieser Tage SVP-Parteipräsident Toni Brunner. Ihn beeindruckten vielmehr die 57'000 straffälligen Ausländer, die im vergangenen Jahr verurteilt worden seien, genauso wie die 155'000 Unterzeichner der Durchsetzungsinitiative sowie die 1,4 Millionen Stimmbürger, die im Jahr 2010 für die Ausschaffungsinitiative gestimmt hätten ("Für die Ausschaffung krimineller Ausländer").
Wenn die Alarmglocken läuten
Eine ähnliche Mobilisierung gegen die SVP gab es letztmals 1992 im Rahmen der Abstimmung über den Zutritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Die einstige Bauern- und Handwerkerpartei verfügte damals über einen Wähleranteil von nur 11,9 Prozent. Aber es gelang ihr, gegen den Widerstand des gesamten politischen Establishments mit einem Referendum den Beitritt der Schweiz zum EWR zu verhindern.
Die damalige Abstimmung bewirkte eine stärkere Orientierung der SVP nach rechts. Jede politische Öffnung nach aussen wurde bekämpft, gleichzeitig eine restriktivere Ausländerpolitik gefordert. Für die SVP begann damals eine unvergleichbare Erfolgsgeschichte, die letztes Jahr in einem Wähleranteil von 29,4 Prozent endete – ein historischer Rekord für eine Schweizer Partei.
Seit 2009 lag der Zuspruch zu SVP-Positionen bei wichtigen eidgenössischen Abstimmungen häufig wesentlich höher, nämlich bei über 50 Prozent. Das Volk nahm die letzten drei Initiativen an: "Gegen den Bau von Minaretten" (2009), "Für die Ausschaffung krimineller Ausländer" (2010) und "Gegen Masseneinwanderung" (2014).
Im Vergleich zu 1992, als sich die SVP in der Defensive befand, stehen heute die anderen Parteien unter Druck, jede neue Offensive der konservativen SVP abwehren zu müssen. Die Gegenkampagnen fielen bis anhin aber eher bescheiden aus, selbst bei einer so wichtigen Frage wie der Regelung der Zuwanderung.
Wie erklärt sich eine so massive Mobilisierung ausgerechnet bei der jetzigen SVP-Initiative? Georg Lutz, Politologe an der Universität Lausanne, meint: "Ich habe den Eindruck, dass diese Initiative bei anderen Parteien und Organisationen Alarmglocken ausgelöst hat. Die Vorschläge betreffen nicht allein Ausländer, sondern auch einige wichtige Prinzipien unseres Rechtsstaates, etwa die Gewaltenteilung, da sowohl dem Parlament als auch der Gerichtsbarkeit Kompetenzen entzogen werden. Für viele Leute hat die SVP dieses Mal den Bogen überspannt. Daher wird der Vorstoss bekämpft, aber auch in Hinblick auf neue Initiativen der SVP."
Die Elite gegen das Volk
Doch wird diese massive Mobilisierung ausreichen, den SVP-Vorschlag zu bodigen? Die SVP selbst ist der Ansicht, dass all diese Appelle nur zeigen, wie weit sich die Elite im Land von den Sorgen der Bevölkerung entfernt hat, vor allem bei Fragen der Sicherheit und beim Thema Migration. "Wir kämpfen auf der Seite des Schweizer Volkes, und nicht auf der Seite einer Clique von Politikern, Funktionären, Professoren und Richtern, die das Recht nach ihrem Gutdünken interpretieren und unsere direkte Demokratie als notwendiges Übel betrachten", sagte kürzlich SVP-Parteipräsident Toni Brunner.
"Ich kann diese Meinung absolut nicht teilen", entgegnet Staatsrechtler Andreas Auer, der das Manifest der Rechtsprofessoren lanciert hat. "Unsere Beteiligung an dieser politischen Debatte zeigt genau das Gegenteil auf: Die Elite fühlt sich als Teil der politischen Meinungsbildung und zieht sich nicht zurück, wenn grundlegende Errungenschaften unseres Rechtsstaates mit Füssen getreten werden. Die Rechtsprofessoren gehören genauso zum Volk wie alle anderen; und wir sind als Bürger von solchen Entscheidungen genauso betroffen wie der Rest der Bevölkerung."
Nur ganz wenige Rechtsprofessoren unterstützen die SVP-Durchsetzungsinitiative, darunter SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt. Er entgegnet: "Natürlich bin ich der Meinung, dass Professoren das Recht haben sollen, sich zu Abstimmungsvorlagen zu äussern. Aber es gibt ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn die Professoren immer nur dann Position beziehen, wenn es sich um SVP-Positionen handelt. Es gab keine Appelle gegen andere, ebenfalls rechtlich problematische Vorstösse wie die sozialdemokratische Initiative für eine Reform der Erbschaftssteuer. Diese enthielt eine Rückwirkungsklausel, die ebenfalls den Grundätzen der Bundesverfassung widersprach."
Eine grosse Herausforderung
Diese Mobilisierung gegen die SVP birgt auf alle Fälle auch Risiken. Am 28. Februar steht einiges auf dem Spiel. Wenn die Durchsetzungsinitiative angenommen werden sollte, wird sich die Meinung einer breiter werdenden Kluft zwischen Volk und Elite verstärken, welche von der SVP bereits vertreten wird, meint Politologe Georg Lutz. "Ich habe aber den Eindruck, dass diese Mobilisierung einen gewissen Erfolg hat. Bisher erreichte es die SVP stets, dass sich die Debatte um die kriminellen Ausländer drehte." Die gegnerische Kampagne habe dazu geführt, dass nun die Mängel der Durchsetzungsinitiative im Fokus stünden, beispielsweise die Verletzung des Prinzips der Verhältnismässigkeit und die Verletzung von Grundrechten.
"Es ist aber nicht leicht zu erklären, warum es so wichtig ist, bestimmte Grundsätze unserer Verfassung zu garantieren", so Lutz. "Dies gilt vor allem für Initiativen, die aus wahlkampftaktischen Gründen lanciert wurden und stark emotional belastet sind. Darin liegt eine grosse Herausforderung für unser direktdemokratisches System."
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