Die innenpolitischen Grabenkämpfe in Grossbritannien nähern sich mit der Brexit-Abstimmung am Dienstag ihrem Höhepunkt. Premierministerin Theresa May bangt um eine Mehrheit für das von ihr mit der EU ausgehandelte Austritts-Abkommen. London und Brüssel stehen turbulente Tage bevor.
Kurz vor der entscheidenden Brexit-Abstimmung nimmt der Machtkampf zwischen der britischen Regierung und dem Parlament an Schärfe zu. Die Opposition um Labour-Chef Jeremy Corbyn erhöhte den Druck auf Premierministerin
Sollte das Abkommen bei der Abstimmung am Dienstag durchfallen, wäre das "ein katastrophaler und unverzeihlicher Vertrauensbruch in unsere Demokratie", schrieb May im "Sunday Express". "Es ist an der Zeit, die Spiele zu vergessen und das zu tun, was für unser Land richtig ist." Auch auf Deutschland kommen im Falle eines ungeregelten EU-Austritts Grossbritanniens erhebliche Mehrbelastungen zu.
Premierministerin warnt vor "No Deal"
May betonte, das Abkommen bringe London die Kontrolle über die eigenen Grenzen, Gesetze, Handelspolitik und Küstengewässer zurück. Auch die Kontrolle über das Geld werde wieder erlangt, weil keine Riesensummen mehr nach Brüssel geschickt werden müssten.
Die Abstimmung über das Brexit-Abkommen zwischen London und den 27 anderen Mitgliedstaaten ist für den Dienstagabend geplant, wie ein Parlamentssprecher der Deutschen Presse-Agentur sagte. Sie werde frühestens um 20 Uhr (MEZ) beginnen.
Eine Niederlage Mays gilt als wahrscheinlich. Die Folge könnte ein ungeregelter EU-Austritt am 29. März sein. In dem Fall droht Chaos in der Wirtschaft und vielen anderen Bereichen.
Auch die verbleibenden EU-Mitglieder und deren Wirtschaft würde ein solcher "No Deal" mit zusätzlichen Milliardenkosten belasten. Bis Ende kommenden Jahres müsste allein Deutschland bis zu 4,2 Milliarden Euro zusätzlich in den EU-Haushalt einzahlen, berichtete die Funke Mediengruppe (Sonntag) unter Berufung auf Berechnungen des renommierten Brüsseler Bruegel-Forschungsinstituts.
Dies wäre der deutsche Anteil zum Ausgleich einer Lücke von insgesamt 16,5 Milliarden Euro, die im EU-Haushalt von April 2019 bis Ende 2020 bei einem britischen EU-Austritt ohne Abkommen entstehen würde, heisst es in einem Schreiben des Bruegel-Instituts an den Bundestag, das den Zeitungen vorliegt. Grossbritannien ist nach Deutschland der grösste Nettozahler in der EU. Den Mehrkosten für Deutschland stünden nur etwa 200 Millionen Euro Erlöse aus den Zolleinnahmen gegenüber.
Die deutsche Wirtschaft rechnet bei einem ungeregelten Brexit mit hohen Belastungen durch Zölle. Der deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) kalkuliert mit jährlich drei Milliarden Euro an Zöllen, die deutsche Unternehmen für Exporte nach Grossbritannien voraussichtlich entrichten müssten, schrieb die Funke Mediengruppe. Hinzu kämen weitere rund 200 Millionen Euro für Zollformalitäten.
Chaos in Dover befürchtet
Auch in Grossbritannien liegen mit Blick auf die Wirtschaft die Nerven blank. Arzneimittelengpässe, Probleme bei der Zulieferung wichtiger Teile für die Autoindustrie oder Mangel an bestimmten Lebensmitteln werden bei einem "No Deal" nicht ausgeschlossen. Die englische Hafenstadt Dover könnte beim Transport von Waren schnell zum Nadelöhr werden - wegen nötiger Kontrollen würden dort Prognosen zufolge binnen kurzer Zeit 50 Kilometer lange Staus entstehen. Grosse Kühl-Lagerräume sind schon längst in England ausgebucht.
Das Parlament in London ist in Sachen Brexit heillos zerstritten. Labour-Chef Corbyn setzt auf eine Neuwahl. Das forderten auch Demonstranten am Samstag in London, die dort nach dem Vorbild der französischen Gelbwesten-Bewegung gegen die Regierung protestierten. Die Veranstalter sprachen von mehreren Tausend Teilnehmern.
Die Sparpolitik und der Brexit haben laut der Kampagne "The People's Assembly Against Austerity", die die Demo organisierte, die Nation geteilt. "Seit die Tories die Macht übernommen haben, hat sich die Zahl der Obdachlosen verdoppelt", sagte Kampagnen-Vizechef Steve Turner. Der staatliche Gesundheitsdienst NHS, der Pflegebereich und Schulen seien in der Krise. "Wir haben es hier mit einer Regierung zu tun, der die Alltagssorgen der Menschen völlig fremd sind."
Showdown am Deinstag
Der britische Verkehrsminister Chris Grayling warnte vor weiteren tiefgreifenden Folgen für das Vereinigte Königreich, sollte das Abkommen am Dienstag durchfallen. Dies werde die Tür für extremistische politische Kräfte öffnen - "so wie wir es in anderen Ländern in Europa sehen", erklärte Grayling der "Daily Mail". Der Minister sagte eine "weniger tolerante Gesellschaft" voraus und ein mögliches Ende der "moderaten" Politik in Grossbritannien.
Brüssel hatte mehrfach betont, dass es beim Brexit-Vertrag keine Nachverhandlungen mehr gibt - allenfalls "Klarstellungen" seien noch möglich. Die EU-Kommission sei dazu mit Downing Street in Kontakt. Sollte die Abgeordneten am Dienstag wider Erwarten doch für das Abkommen stimmen, dann würde eine Übergangsfrist bis mindestens Ende 2020 greifen. In diesem Zeitraum bliebe praktisch alles beim Alten.
Um einen Austritt ohne Vertrag abzuwenden, wird nun auch vermehrt über eine Verschiebung des Brexits spekuliert. Dies wäre auf Antrag Grossbritanniens mit Zustimmung aller anderen 27 EU-Staaten möglich. Alternativ könnte Grossbritannien seinen Austrittsantrag zurückziehen - und es womöglich in einigen Monaten noch einmal versuchen. (mc/dpa)
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