Bis zu 100 Milliarden Euro könnte die Europäische Union laut einem Medienbericht nach dem Brexit von Grossbritannien fordern. Die britische Premierministerin Theresa May denkt gar nicht daran, sich auf die Zahlenspiele aus Brüssel einzulassen. Es droht ein schmutziger Scheidungskrieg.
Beschlossene Agrarhilfen, Pensionsforderungen, Umzugskosten für EU-Institutionen: Die Europäische Union wird der britischen Regierung bei den Brexit-Verhandlungen eine lange und hohe Rechnung auf den Tisch legen.
Nach einer Analyse der "Financial Times", die sich auf höhere Forderungen aus Deutschland und Polen berief, liegt die Summe bei bis zu 100 Milliarden Euro. Bisher brachte die EU-Kommission rund 60 Milliarden Euro ins Spiel.
Berlin und Warschau bestehen dem Bericht zufolge darauf, dass für die Jahre 2019 und 2020 beschlossene Agrarsubventionen von London beglichen werden. Ausserdem soll Deutschland dagegen sein, den Briten einen Anteil an den EU-Immobilien auszuzahlen.
In einem Fernseh-Interview betonte der britische Brexit-Minister David Davis, sein Land werde eine so hohe Summe nicht zahlen – sondern nur das, wozu es gesetzlich verpflichtet sei. "Und nicht das, was die EU will".
Ein Frühstück zwischen der britischen Premierministerin
UK soll alle Brexit-Kosten tragen
Das Vereinigte Königreich wollte den EU-Austritt, das Vereinigte Königreich soll den für 2019 geplanten Austritt nun gefälligst auch alle Konsequenzen tragen. So liesse sich die Position der übrigen 27 Mitgliedsstaaten zusammenfassen.
Michel Barnier, der französische Brexit-Verhandlungsführer sagte, er verstehe nicht, warum auf der Insel von "Bestrafung" oder gar "Austrittssteuer" geredet werde. Es gebe einfach finanzielle Verpflichtungen, die man gemeinsam mit Grossbritannien eingegangen sei.
Die Rechnung sollen die Briten übrigens in Euro begleichen. Damit will die EU-Kommission das Währungsrisiko auf das Vereinigte Königreich übertragen.
Barnier machte allerdings klar, bevor eine abschliessende Zahl genannt werde, müsse sich Brüssel mit den Briten darauf einigen, "welche Verpflichtungen London übernehmen muss". Weder die Berechnungsmodalitäten noch die Summe sind bisher also geklärt.
EU will Nachahmer abschrecken
Sicher scheint eines: Die EU hat ein Interesse daran, den Preis für den Brexit möglichst in die Höhe zu treiben – politisch, wirtschaftlich und finanziell. Denn ein allzu "weicher" Austritt könnte verheerende Folgen für den Zusammenhalt der Union haben, EU-feindliche Kräfte stärken und mögliche Nachahmer ermuntern, Brüssel ebenfalls den Rücken zu kehren.
Gleichzeitig leben 3,2 Millionen EU-Ausländer in Grossbritannien, die nach dem Brexit nach Wunsch der Union mehr Rechte als Nicht-EU-Ausländer geniessen sollen. Brüssel darf folglich nicht masslos agieren, wenn es hier eine faire Lösung erreichen möchte.
"Dass sich London seine Grosszügigkeit für bereits auf der Insel lebende EU-Ausländer durch Kompromisse der Gemeinschaft an anderer Stelle erkaufen könnte, ist politische Realität", schreibt die Saarbrücker Zeitung.
Weitere besonders strittige Punkte sind die Themen Handel und Zoll. London peilt ein grosszügiges Freihandelsabkommen an. Für EU-Kommission, Parlament und die Mitgliedsstaaten ist laut "Spiegel Online" klar: "Grossbritannien darf nach dem Austritt auf keinen Fall besser dastehen als EU-Mitglieder."
Auch hier zeigten die Kontinentaleuropäer bisher eine klare Linie, als sie sich vergangene Woche auf die Brexit-Leitlinien verständigten. Selbst Theresa May warnte ihre Landsleute kürzlich: Der Austritt aus der EU werde "für das Vereinigte Königreich Konsequenzen haben".
Zudem kritisierte sie aufgrund der harten Forderungen kurz vor der britischen Parlamentswahl im Juni eine mögliche Beeinflussung des Abstimmungsergebnisses durch die EU.
Schreckensszenario "schmutziger Brexit"
Käme kein Austrittsabkommen zustande, droht ein "schmutziger Brexit". London wäre zunächst gezwungen, auf Basis der Regeln der Welthandelsorganisation WTO mit der EU Handel zu treiben – was für die Volkswirtschaften beider Seiten keine gute Lösung darstellt.
Schlimmstenfalls müsste jeder Mitgliedsstaat ein eigenes Handelsabkommen mit den Briten in Kraft setzen. Wahrscheinlicher ist, dass ein Kompromiss gefunden wird.
Es ist ein wenig wie bei Tarifgesprächen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, zu denen öffentliches Säbelrasseln traditionell dazugehört. Am Ende steht dann meist ein Ergebnis, das von den Ursprungsforderungen beider Seiten mal mehr, mal weniger abweicht.
Der Weg zu einem möglichen Kompromiss wird jedenfalls steinig werden. Der Politikwissenschaftler Florian Hartleb schrieb in der "Wiener Zeitung": "Ein schmutziger, langwieriger Scheidungskrieg zwischen der EU und Grossbritannien zeichnet sich ab."
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