• In Belarus regiert seit nunmehr 27 Jahren Alexander Lukaschenko, der sich spätestens seit dem vergangenen Sommer nur noch mit brutaler Unterdrückung an der Macht hält.
  • Derzeit sitzen in dem EU-Nachbarland mehr als 900 politische Gefangene in Haft.
  • Zum internationalen Tag der Menschenrecht am 10. Dezember veröffentlichen wir einige ihrer Briefe, die sie aus dem Gefängnis an ihre Familie, Freunde und Unterstützer geschickt haben.

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Es gibt ein Belarus vor dem Sommer 2020. Und es gibt ein Belarus danach. Landesweit gingen damals in dem EU-Nachbarland Hunderttausende gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen und gegen Machthaber Alexander Lukaschenko auf die Strasse. Junge, Alte, Studentinnen, Arbeiter, Frauen und Männer schlossen sich den Demonstrationen an und forderten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Lukaschenko liess die friedlichen Proteste niederschlagen. Und er erhöhte den Druck auf Kritiker und unabhängige Stimmen. Repressionen sind mittlerweile Alltag geworden, eine weiss-rot-weisse Flagge im Fenster oder ein kritischer Kommentar im Internet genügen, um festgenommen zu werden. In den vergangenen 16 Monaten haben Polizei und Geheimdienst mehr als 40.000 Menschen verhaftet, Beobachter dokumentierten mehr als 4.500 Fälle von Folter durch den Sicherheitsapparat und Menschenrechtler zählen aktuell 909 politische Langzeitgefangene – mehr als je zu Sowjetzeiten.

Zum internationalen Tag der Menschenrechte am Freitag lassen wir fünf von ihnen zu Wort kommen. In den Briefen an ihre Familie, Freunde und Unterstützer berichten die Gefangenen über die Haftbedingungen, sie schreiben, was sie bewegt und welche Hoffnung sie trotz allem haben.

"Im Moment ist mein Leben völlig schwarz"

Ausschnitte aus einem Brief von Marfa Rabkowa an ihren Ehemann Wadim Scheromski vom 17. August:

"Heute ist es genau elf Monate her, dass ich inhaftiert wurde. Die Zeit vergeht wie im Flug. Ich hoffe, das ist auch bei dir so. Ich bin noch nie in meinem Leben so rücksichtslos mit der Zeit umgegangen. Ich schätze sie überhaupt nicht, und was gibt es da zu schätzen? Ein Tag ist vergangen – und ich danke Gott dafür!

Was mein tägliches Leben angeht, ist alles so ruhig wie früher, es passiert nicht viel. Ich lese Turgenew [Iwan Turgenew zählt zu den bedeutendsten russischen Schriftstellern, Anm. d. Red.], wie ich schon geschrieben hab', ich lese ihn sehr langsam. Im Grunde habe ich es nicht eilig. Gleichzeitig lese ich Zeitungen und Zeitschriften und schaue ein bisschen Fernsehen. Vor allem Berichte aus Afghanistan, dort geschehen schreckliche Dinge. Diese armen Menschen tun mir so leid.

(...)

Jede Menge Freude und Glück – das ist alles, wonach ich mich sehne. Im Moment ist mein Leben völlig schwarz. Ich dachte, ich hätte den Tiefpunkt erreicht. Aber ich habe mich geirrt, es war nicht der Tiefpunkt. Ich glaube nicht, dass das Leben mich noch mit einem weiteren Unglück überraschen kann, denn wie kann es noch schlimmer werden?

Aber mein Kopf sagt mir, dass es noch schlimmer werden kann. Und in dieser pechschwarzen Dunkelheit gibt es einen einzigen Lichtstrahl. Das bist du, meine Hoffnung auf ein zukünftiges Leben. Wird es nicht doch noch besser werden? Nicht wahr, Wadim? Wird es eines Tages enden? Entschuldige, dass ich dir solche Fragen stelle. Bitte schreibe mir etwas Aufmunterndes. Ich brauche das wirklich."

Marfa Rabkowa (26) ist Menschenrechtsverteidigerin. Sie koordinierte die Freiwilligenarbeit von "Wjasna" (Frühling), der grössten und wichtigsten Menschenrechtsorganisation in Belarus. Rabkowa sitzt seit dem 17. September 2020 in Untersuchungshaft, ihr Gesundheitszustand ist schlecht. Laut eines Briefes an ihre Familie drohen ihr bis zu 20 Jahre Gefängnis.

"Es ist stickig in dem kleinen Raum"

Ausschnitte aus einem Brief von Anna Wischnjak an ihre Brieffreundin Elena vom 11. Juni:

"Ich habe gerade deinen Brief erhalten und schreibe sofort eine Antwort, auch wenn ich das ganze Wochenende warten muss, bevor ich sie abschicken kann! Ich ziehe es vor, sofort zu antworten, um die Energie und die Freude über den erhaltenen Brief zu vermitteln! Jeder Brief, jede Karte, jedes Päckchen hier ist das, wofür wir leben! Es spielt keine Rolle, was geschrieben wird oder wie viel, es kann jede Kleinigkeit sein – nur um die Stimmung zu heben!

(...)

Es ist nicht einfach, über den Alltag zu schreiben, angesichts der Zensur ... und ich meine nicht die Obszönitäten ... ich werde es dennoch versuchen. Früher habe ich es geliebt, in den Wäldern zu zelten. Wenn man in der Natur mit drei Schichten Kleidung und einem Schlafsack schläft. Ich würde viel dafür geben, diesen Nervenkitzel jetzt zu erleben ...! (...) Die Campingerfahrungen sind mir sehr nützlich. Zum Beispiel schlafe ich nachts unter einer Decke, wobei ich die Enden und Ränder unter die Matratze stecke – so entsteht ein 'Kokon' oder eine Art Schlafsack, um mich warmzuhalten und vor der Zugluft und der Lampe zu schützen, die mir mit ihrem Licht in die Augen sticht.

Das Wichtigste ist, sich nicht an die eisigen Wände zu lehnen – die Zelle ist wie eine Bergschlucht, es ist stickig in dem kleinen Raum. Eines Nachts drückte ich mich mit dem Rücken gegen den Felsen und voilà: Ich hustete die dritte Woche in Folge, aber das ist okay, ich bin fast darüber hinweg, es ist meine eigene Schuld :).

(...)

Was fehlt, ist der Kontakt und die Interaktion mit anderen Menschen. Die meisten Menschen hier sind furchtbar 'leer'. Es gibt nichts, worüber man reden kann, und das macht mich wahnsinnig ... denn ich unterhalte mich mit Menschen, die interessant sind, von denen man etwas für seinen Intellekt mitnehmen und seinen Horizont erweitern kann. Ich denke, deshalb ist jeder Besuch des Anwalts wie ein Aufatmen für mich und eine Gelegenheit, mindestens eine Stunde mit einem Menschen zu verbringen, der erfüllt ist! Jemand, der furchtbar interessant ist, wie es mir hier scheint. Jeder Mensch mit freiem Willen ist eine Fundgrube für lebendige Gedanken. Für mich hilft schon ein wenig Kommunikation, um mich als Mensch zu fühlen!

(...)

Was das Essen angeht: Nun, ich esse das Essen hier überhaupt nicht ... ich esse das Essen meiner Eltern: Getreide, Reis, Haferflocken, Buchweizen, Kartoffelpüree, Nüsse, Trockenfrüchte. Schawarma und Burger (Wurst, Käse, Pastrami, Tomaten, Gurken, Kräuter). Von all den Leckereien bin ich am glücklichsten über frisches Gebäck, vor allem Quarktaschen :).

Seit dem 1. April gibt es dienstags und donnerstags vormittags gekochte Eier. Früher gab es Brei mit Milch, aber jetzt nur noch mit Wasser und Mehl. Der Brei ist nahrhaft, aber ich esse ihn nicht. Am Donnerstagmorgen gibt es Reisbrei, den esse ich jetzt. Ich bin süchtig nach Schokolade, Kaffee und anderen Süssigkeiten. Obwohl ich früher überhaupt keine Süssigkeiten gegessen habe, braucht der Körper sie jetzt offenbar, wenn Milchprodukte, Eiweiss und Vitamin D fehlen."

Anna Wischnjak (29) half während der Proteste, Wasser in Minsk zu verteilen. Wischnjak wurde am 28. Oktober 2020 verhaftet und wegen der "aktiven Teilnahme an Gruppenaktionen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen", angeklagt. Am 4. Juni 2021 verurteilte sie eine Richterin zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft in einer Strafkolonie.

"Man fühlt sich wie ein Junge, der auf einem Riesenrad vergessen wurde"

Die folgenden Abschnitte stammen aus Briefen von Ignat Sidortschik, datiert auf den 4. September 2020. Der Empfänger oder die Empfängerin soll anonym bleiben.

"Mmh ... wie schön dein Brief riecht. Hallo! Die ewigen 'Gerüche' von Feuchtigkeit, Tabak, nicht ganz frischen Männerkörpern und Abwässern haben sich hier in den Wänden eingenistet, aber [dein Brief versprüht] ein Hauch von weitläufiger und lebensfroher Luft.

Die Fenster hier haben 'Wimpern' und ich kann nur dünne Linien vom Himmel und Fragmente der umliegenden Gebäude sehen. Der Geruch [des Briefes] weitet diese Schlitze ein wenig, danke! Ich träume oft von dir, wir spielen Billard, arbeiten zusammen in irgendeinem Kulturzentrum, skizzieren und machen fantastische Bilder von irgendwelchen unvorstellbaren Tropenwelten.

Wenn es die Bücher nicht gäbe, würde ich verrückt werden. Hier gibt es absolut nichts zu tun. Ich versuche, einige der Skizzen und die Details meiner Umgebung im Kopf zu fotografieren, aber eine echte Kamera fehlt mir. Es ist eine andere Welt. Manchmal wache ich auf und weiss nicht sofort, wo ich bin.

Man könnte es einen Ort nennen, an dem die Zeit stillsteht. Das ist der Sinn der Bestrafung. Die Menschen werden von der Zeit gequält. Was dann passiert, wird zum Murmeltiertag, und man fühlt sich wie ein Junge, der in einem Park auf einem Riesenrad vergessen wurde. Keine Menschen, keine Techniker, nur die eintönigen Umdrehungen der Kabinen.

Manchmal schaltet sich das Radio ein. Ich habe [die russischen Popsänger] Polina Gagarina, [Dima] Bilan, [Waleri] Meladse und dergleichen noch nie so sehr genossen ... ich höre nur Bruchstücke von Nachrichten. Einmal in der Woche bringen sie uns die Zeitung 'Belarus Segodnja' [Belarus Heute], ein staatliches Blatt, das von der Präsidialverwaltung herausgegeben wird.

(...)

Hier spazieren zu gehen, ist wie ein wildes Tier zu sein. Es ist im Grunde dieselbe 'Hütte', nur ohne Decke und Etagenbetten, stattdessen gibt es eine Bank, der Hof ist etwa zwei mal fünf Meter gross. Der Himmel über der Zelle besteht aus den Quadraten des Gitternetzes. Nur die Gestalt eines Gefängniswärters schimmert durch. Stellen Sie sich einen Tiger in einem Käfig im Zoo vor, der sich von Wand zu Wand bewegt. So ist es auch hier. Also zwei Stunden lang. Ungezügelter Spass!"

Ignat Sidortschik (32) ist Regisseur, Schauspieler und Dichter. Wegen des Vorwurfs der "Organisation von Massenunruhen" wurde er am 10. August 2020 festgenommen. Er hatte sich am Wahltag mit Freunden im Zentrum von Minsk verabredet. Am 16. Februar wurde Sidortschik zu drei Jahren Strafarbeit verurteilt.

"Möge das Gute fortbestehen!"

Ein Brief von Maria Kolesnikowa an ihren Vater Alexander Kolesnikow vom 16. Juli 2021:

"Hallo, mein geliebter, weltbester Papa! Wie geht es dir in dieser schweren Zeit? Ich denke ständig an dich, Opa und alle unsere Liebsten – ich sende meine Grüsse und viele Umarmungen an alle!

Heute war die Gerichtsverhandlung und ich weiss schon, wie du dich 'umziehen' musstest – ich wette, jeder in der Haftanstalt konnte mich lachen hören! Du bist wirklich schnell auf den Beinen. Siehst du, jetzt kann niemand mehr bezweifeln, dass ich die Tochter meines Vaters bin – und ich bin so stolz, sie zu sein!

Ich bin so froh, dass du die gute Laune bewahrst und diese verrückten Tage mit einem guten Sinn für Humor überstehst :). Mach weiter so!

(...)

Und natürlich hat auch der Witz, dass dein [Citroën] Berlingo bröckelt und schneller altert als du, ein Lächeln auf mein Gesicht gezaubert. Und so soll es auch sein, Papa, du hast keinen Grund, zu bröckeln!

Ich bin wohlauf, gesund und fröhlich! Ich sende dir und allen anderen eine dicke Umarmung!

Deine Mascha

Möge das Gute fortbestehen!"

Maria Kolesnikowa (39) ist Musikerin und politische Aktivistin. Sie ist eine der Führungsfiguren der belarussischen Demokratiebewegung, die im vergangenen Sommer entstand. Kolesnikowa wurde entführt und sollte ins Ausland deportiert werden, was sie mit dem Zerreissen ihres Passes verhinderte. Seit dem 9. September 2020 sitzt sie in Haft, am 6. September 2021 verurteilte sie ein Gericht zu elf Jahren Haft im Straflager.

"Eine extremistische Gruppe? Blödsinn!"

Ein Gedicht von Maxim Snak vor Beginn der Verhandlungen gegen ihn, geschrieben am 16. Juli 2021:

"Schande
Es ist verachtenswert, heimlich zu urteilen.
Es ist niederträchtig. Peinlich. Und unanständig.
Habe ich öffentlich aufgerufen? Zur Revolte? Ich?
Beschuldigen Sie mich wenigstens öffentlich!

Konspiration? Mit wem, wie und wann?
Warum ein Geheimprozess in einem anderen Haus?

Ein geheimer Prozess ist ewig: So etwas geht auch im Sommer nicht unter.
Eine extremistische Gruppe? Blödsinn!
Es sei denn, der Geist der blutigen 'Troika' [eine Referenz an die ebenfalls geheim tagenden Schnellgerichte in der Sowjetunion, Anm. d. Red.]
und, seinen Namen verbergend, ein Experte für die Schande der schwarzen Sturmhaube [damit sind die in Prozessen stets vermummt auftretenden Polizisten gemeint, die dem Gericht als 'Zeugen' dienen, Anm. d. Red].

Es hat funktioniert. Hier habe ich bereits viele verwandte Berufe erlernt. Ich kann nicht sagen, dass etwas eine Berufung ist, aber es ist sicherlich interessant, darin zu leben. Also, wie der Klassiker: kämpfen und suchen, finden und nicht aufgeben! Übrigens sind die Bergbauingenieure in all den coolen Fantasy-Büchern sehr cool. Es sind Zwerge ;). Bis dann!"

An seinen Vater schrieb Snak am 9. August:

"Was die Nachrichten aus dem Gericht angeht, so denke ich, dass sie [die Verhandlung hinter verschlossenen Türen, Anm. d. Red.] uns viel Zeit sparen wird. Das ist ein Pluspunkt. Denn wenn das Verfahren öffentlich wäre, müsste man an vielen langen Sitzungen teilnehmen, um genau zu wissen, was vor sich geht. Aber auf diese Weise ist es nur eine Nachrichtenmeldung und das war's: Jeder weiss sofort, was dort passiert ist. Was für ein Gewinn!"

Maxim Snak (40) ist der Anwalt von Kolesnikowa und seit dem 18. September 2020 inhaftiert. Snak hatte sich im Mai 2020 dem Team des damaligen Präsidentschaftskandidaten Wiktar Babaryka angeschlossen, um es rechtlich zu unterstützen. Er wurde am selben Tag wie seine frühere Mandantin zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Bei der Zusammenstellung der Briefe bekam die Redaktion Hilfe von der belarussischen Initiative Politzek.me, die die politischen Gefangenen unterstützt und im ständigen Austausch mit Angehören und Anwälten der Inhaftierten steht. Politzek.me ist aus der Unterstützergruppe um den Oppositionspolitiker Wiktar Babaryka hervorgegangen. Der 58 Jahre alte Ex-Bankmanager galt als aussichtsreichster Gegenkandidat bei der Wahl im August 2020, durfte aber nicht antreten. Babaryka wurde knapp zwei Monate vor der Wahl festgenommen, ein Gericht verurteilte ihn im Juli 2021 wegen angeblicher Geldwäsche, Bestechung und Steuerhinterziehung zu 14 Jahren Straflager.
Wenn Sie selbst Briefe oder Postkarten an politische Gefangene schreiben wollen, erfahren Sie auf der Webseite der deutsch-schweizerischen Menschenrechtsorganisation Libereco – Partnership for Human Rights, wie das funktioniert und was Sie beachten sollten. Der Autor dieses Textes ist Vorsitzender der deutschen Sektion von Libereco.
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