Weil Teile der Bewegung "zu schwersten Gewalttaten" bereit seien, warnt der Verfassungsschutz in seinem aktuellen Jahresbericht vor den sogenannten Reichsbürgern. Wer sind diese Verschwörungstheoretiker?
Stellen Sie sich vor, eines Tages würde Ihnen jemand enthüllen, dass Deutschland gar kein souveränes Land ist und Sie kein Staatsbürger.
Man erklärt Ihnen, dass Deutschland nur eine riesige Firma wäre und Sie, ob Sie es wollen oder nicht, nur ein Mitarbeiter dieser Firma.
Sie finden das vollkommen verrückt? Nun, genau solche Dinge glauben sogenannte Reichsbürger mit absoluter Überzeugung.
Der Ursprung dieser Überzeugung liegt in der Feststellung, dass die Weimarer Reichsverfassung von 1919 nie ausser Kraft gesetzt worden war. Und die Verschwörungstheorie zu einer "BRD GmbH" beruft sich auf diese Feststellung.
Gründe, warum Deutschland böse ist und man deshalb ein eigenes Königreich mit eigener Polizei gründen muss, gibt es für die "Reichsbürger" genügend.
Das Amtsgericht Duisburg hatte dies in einem Beschluss 2006 als "ideologisch bedingte Wahnvorstellungen" bezeichnet. Was albern klingt, ist längst zum Problem geworden.
Denn die Szene der "Reichsbürger" schikaniert die Behörden. Und manche Mitglieder sind gewaltbereit, wie der Verfassungsschutz aktuell warnt.
Wer sind die Mitglieder?
Drei Viertel der Mitglieder sind Männer, die über 40 Jahre alt sind. Es sind mitunter Menschen, denen durch ein Unglück die Existenzgrundlage geraubt wurde oder die durch sonstige Schicksalsschläge in Not geraten sind, sagt der Rechtsextremismus-Experte Dirk Wilking im Interview mit der "Märkischen Allgemeine".
Die Bewegung sei auf keinen Fall homogen, betont indes Johannes Baldauf, Experte für Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien der Amadeu Antonio Stiftung, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Im Kern aber stecke hinter der Bewegung "eine Ideologie, die rassistisch, nationalistisch und gebietsrevisionistisch ist".
Zudem gebe es einen latenten Antisemitismus, der sich mit dem Glauben an eine Weltverschwörung verknüpft. "Das sind schon Schnittmengen zum klassischen Rechtsextremismus", meint Baldauf. Hier sei das Gewaltpotenzial hoch.
Ideologie gepaart mit Wut, Frustration und Gewaltbereitschaft – das ist die Gemengelage. Aufgrund ihrer abstrusen Ansichten mag es schwerfallen, die "Reichsbürger" ernst zu nehmen. Doch das sollte man sehr wohl tun.
Wie gross ist die Szene?
Im vergangenen Jahr zählten 16.500 Menschen zur Szene. Nach jüngeren Zahlen von Ende März geht der Verfassungsschutz inzwischen von 18.000 Reichsbürgern aus. 2016 waren es noch 12.800.
Ob die "Reichsbürger" zuletzt massiven Zulauf gefunden haben, lässt sich daran aber nicht ablesen. Die Bewegung wird erst seit Herbst 2016 vom Verfassungsschutz beobachtet.
Der Anstieg mag – zumindest in Teilen – also auch auf die bessere Erfassung der Mitglieder zurückzuführen sein.
Fest steht aber: Die Szene ist deutlich grösser, als die Behörden lange Zeit angenommen haben. Die grösste Anhängerschaft gibt es in Bayern.
Wie gefährlich sind die "Reichsbürger"?
Von den sogenannten Reichsbürgern gehe "ein grösses Gefährdungspotenzial" aus, heisst es im Verfassungsschutzbericht. "Neben ihrer verbalen Aggressivität haben 'Reichsbürger' [...] aber auch eine hohe Affinität zu Waffen", heisst es im Bericht - und: "Reichsbürger" seien bereit, ihre Waffen für "schwerste Gewalttaten einzusetzen".
Der Anteil der Personen mit waffenrechtlichen Erlaubnissen ist unter "Reichsbürgern" mit sieben Prozent höher als in der Gesamtbevölkerung (2 Prozent). Unter den Angehörigen der Szene haben 1.200 eine waffenrechtliche Erlaubnis, 450 Personen wurde sie entzogen.
Dass sich die Anhänger zumindest teilweise bewaffnet haben, belegt die Zahl 547. So viele Waffen hatten bayerische Behörden zum Stand 30. September 2017 bei "Reichsbürgern" eingesammelt.
Wegen des Verdachts auf Bildung einer neuen rechten Terrorgruppe hat die Bundesanwaltschaft im April in drei Bundesländern Razzien in der Szene durchgeführt.
Zielscheibe der Aggressionen sind zumeist Polizisten. So war es im November 2016, als ein Rentner aus dem Kreis Günzburg elf Polizisten mit Reizgas angriff. So war es im Juni 2015, als eine Frau einen Polizisten mit säurehaltigem Sanitärreiniger an den Augen verletzte.
Und so war es auch im bekanntesten Fall der vergangenen Jahre: Im Herbst 2016 schoss Wolfgang P. bei einer Hausdurchsuchung im fränkischen Georgensgmünd auf vier Beamte. Einer starb, zwei wurden verletzt. P. wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Daneben kämpfen "Reichsbürger" auch mit ungewöhnlichen Waffen: Sie bombardieren Ämter mit sinnlosen Anfragen, um sie lahmzulegen. Sie weigern sich Steuern zu zahlen, Fahrzeuge ordnungsgemäss anzumelden oder Strafzettel zu begleichen.
Ordnungshüter werden in ellenlange Diskussionen verwickelt, Behördenmitarbeiter bedroht.
Die Drangsalierung durch völlig absurde Anfragen und Debatten hat in manchen Regionen solche Ausmasse angenommen, dass beispielsweise das Brandenburgische Institut für Gemeinwesen einen Leitfaden für Beamte herausgegeben hat. Darin wird erklärt, wie man mit "Reichsbürgern" und ihrer Ideologie umgeht.
Wie geht es weiter?
Der Verfassungsschutz hat die "Reichsbürger" im Visier. Doch bei der Überwachung durch die Behörden dürfe es nicht bleiben, sagt Experte Baldauf.
Die Öffentlichkeit brauche ein Bewusstsein für die Problematik. "Man muss erklären, dass es nicht nur die aberwitzige Idee von Leuten ist, die Steuern sparen wollen, sondern eine knallharte Ideologie, die menschenverachtend ist."
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