- Carsten Linnemann ist als Verantwortlicher der CDU-Programmkommission so etwas wie das Gesicht der Erneuerung der Union.
- In seinem neuen Buch hält er seiner Partei, aber auch ganz Deutschland den Spiegel vor. Er fordert mehr Eigeninitiative, weniger Bürokratie und einen Mentalitätswechsel, um wieder neuen Schwung zu entfachen.
- Im Interview mit unserer Redaktion erklärt er, warum er gerade jetzt "Die ticken doch nicht richtig!" (Herder-Verlag) geschrieben hat und was er damit erreichen will.
Herr
Carsten Linnemann: Weil es ein selbstkritisches Buch ist, das den Finger in die Wunde legen und Reformen anstossen soll. Ich lobe nicht mich und meine eigene Partei über den Klee, sondern versuche, selbstkritisch, reflektiert auf den politischen Betrieb zu schauen.
Ihr Buch ist ein Appell an die Politik, aus dem Krisenmodus herauszukommen. Dabei nennen Sie im Buch mehrere Bereiche, in denen Politik neu gedacht werden müsse. Welcher ist der wichtigste?
Im Buch nenne ich zuerst die "Föderalismusreform von unten". Mich stört massiv, dass gute Ideen vor Ort selten bis nach oben dringen – und wenn, dann sagt irgendjemand in Berlin, dass es aus verschiedenen Gründen nicht funktioniert. Warum führen wir nicht Pilotregionen ein, in denen neue Ideen vor Ort ohne Rücksicht auf Bürokratie und Paragrafen ausprobiert werden?
Wie soll das gehen?
Ich hätte gerne eine Bundesexperimentierklausel: Man probiert Dinge vor Ort aus, und wenn sie funktionieren, rollt man sie auf ganz Deutschland aus. Wenn sie nicht funktionieren, wandern sie in die Tonne. Mein Ziel ist es auch, die Vollkasko-Mentalität, die sich eingeschlichen hat, aufzubrechen. Die Eigeninitiative ist gehemmt in Deutschland, auch nach Corona, es wird kaum noch Verantwortung übernommen, jeder versteckt sich hinter dem Staat und seinen Gesetzen. Wir sind in einer Art Komfortzone angekommen.
Und das ist schlecht?
Ja, denn nur durch Eigeninitiative, durch Aufbruch, durch Erneuerung, durch Hunger auf Wissen und Innovationen können wir nach vorne kommen. Das findet immer weniger statt, und das hängt damit zusammen, dass dieses Land in Bürokratie und Regulierung erstickt. Eigeninitiative wird gar nicht mehr gefördert – und eingefordert auch nicht mehr. Ich glaube, das kriegen wir hier aus Berlin nicht mehr geregelt.
Warum nicht?
Weil alles kaputt geredet wird. Wenn man hier einen Vorschlag macht, wie man Bürokratie abbaut, kommt sofort der erste Bedenkenträger und erklärt, warum das nicht geht. Komischerweise aber ist der Bedenkenträger entspannt, wenn man etwas vor Ort ausprobiert. Ein Vorbild für mich ist Claus Ruhe Madsen, der ehemalige Oberbürgermeister von Rostock. Er hat das mit dem Click and Meet in der Corona-Pandemie einfach mal ausprobiert. Als es dann funktionierte, haben es alle nachgemacht. Von diesen mutigen Typen vor Ort brauchen wir einfach viel, viel mehr.
Sie formulieren in Ihrem Buch "15 Ideen für den grossen Wurf". Wie optimistisch sind Sie, dass die alle auch irgendwann in die Praxis umgesetzt werden?
Wenn sich fünf bis zehn dieser Positionen im neuen Grundsatzprogramm der CDU - und dann vielleicht sogar im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2025 - wiederfinden würden, wäre das schon ein Erfolg.
"Aus dem Krisenmodus herauskommen", das sagt sich leicht. Aber viele Menschen in Deutschland haben gerade existenzielle Sorgen. Ist das nicht ein nicht aufzulösender Widerspruch in sich?
Finanzkrise, Fukushima, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise – natürlich muss da gehandelt werden. Es darf aber nicht als Ausrede dafür gelten, dass man etwas nicht macht. Ihre Frage bestätigt das. Umso wichtiger ist es, dass wir die Krise als Normalmodus annehmen. Ich verstehe den Bundeskanzler, dass er, wenn er morgens um 7:00 Uhr im Kanzleramt ist, nicht darüber nachdenkt, wie er die Verwaltung digitalisiert, sondern darüber, wie er die Gaspreisbremse schnell durchsetzt – das hoffe ich zumindest.
Aber?
Aber er hat ein ganzes Kabinett mit einem Riesenapparat dahinter. Ich finde, in Koalitionsverträgen müsste pro Minister ein grosses Projekt aufgeschrieben werden, was das kostet und wann es umgesetzt werden wird. Dann kann jeder Bürger das nachprüfen. Dann gibt's auch nicht so eine grosse Politikverdrossenheit, nicht so viele Stimmen für Protestparteien, und die Menschen haben wieder Spass an Deutschlands Zukunft. Das ist das Ziel. Das versuche ich im Buch zu beschreiben.
Sie leiden selbst unter den Zuständen, die Sie im Buch beschreiben. Wie äussert sich das – können Sie ein Beispiel geben?
Ja, gerade rufen mich zahllose Bürger an und sagen: "Warum nur ist das mit der Grundsteuer so bürokratisch? Der Staat muss doch alle Daten haben." Dann rege ich mich mit ihm auf - denn ich bin ja selbst auch Bürger und muss mich mit solchem Papierkram herumschlagen. Dann lege ich auf und rufe danach selbst beim Finanzministerium an und frage: "Was soll das? Ihr habt doch alle Daten!" Solche Sachen nehmen zu. Das liegt an diesem Krisenmodus, weil wir jedes Mal in einer Krise sagen: das mit der Regulierung und dem Bürokratieabbau gehen wir nach der Krise an. Aber dann machen wir das nicht, weil eine neue Krise da ist. So werden es immer mehr Bretter, die man durchbohren muss. Irgendwann sind es so viele Bretter, dass man sie nur noch anmalt. Und dann entsteht Frust und Politikverdrossenheit.
Hört sich so an, als würden jetzt sogar Politiker wie Sie selbst unter Politikverdrossenheit leiden…
Ja. Ich will das nicht pauschalisieren, aber es gibt schon Politiker, die nach Wahlen alles schönreden und auch sonst in Floskeln reden. Vermutlich passiert mir das auch. Wenn ich höre: "Wir werden die Herausforderung annehmen." Oder: "Das Problem nehme ich mit nach Berlin." Da denke ich immer wieder: Was genau machst du denn jetzt? Wann ist es fertig? Es kann nicht alles umgesetzt werden, aber dann muss man dem Bürger Bescheid geben, wenn es anders ist.
Machen Sie das denn?
Also ich rufe jeden Bürger aus meinem Wahlkreis an, der sich bei mir meldet. Ich beantworte auch jede Mail persönlich. Dafür will ich gar keinen Dank haben, sondern es ist meine Aufgabe, dafür werde ich bezahlt. Die Bürger sind nicht blöd, sondern in bestimmten Themen zum Teil informierter als man selbst. Umso wichtiger ist es, dass wir Klartext sprechen und unsere Meinung sagen. Und wenn man mal keine Ahnung hat zu einem Thema, dann einfach mal nichts sagen.
Fühlen Sie sich ein bisschen als Nestbeschmutzer?
Nein. Ich bin in die Politik gegangen, um die Welt besser zu machen, um grosse Pflöcke einzuschlagen. Was ich bisher umgesetzt habe, zum Beispiel die Flexirente oder die Wiedereinführung des Meisterbriefs im Handwerk, sind aber nur kleine Pflöcke. Das Buch ist insofern ein Zwischenfazit meiner bisherigen politischen Zeit. Und ich sehe die Erneuerung der CDU als Chance, weil wir jetzt weder auf das Kanzleramt noch auf den Zeitgeist Rücksicht nehmen müssen. Wir können einfach mal aufschreiben, was wir wirklich denken.
Also richtet sich Ihr Buch originär an die CDU und nicht an ganz Polit-Deutschland?
Doch, an alle. Für mich persönlich ist es ein Debattenbeitrag für das Land, aber natürlich auch für das neue CDU-Parteiprogramm.
Als Leiter der CDU-Programm- und Grundsatzkommission tragen Sie viel Verantwortung, auch für die Zukunft Ihrer Partei. Spüren Sie eine grosse Last auf Ihren Schultern?
Nein, das ist genau das, was ich machen wollte. Ich habe nicht zweimal darüber nachgedacht, als Friedrich Merz mich gefragt hat. Ich habe für mich selbst Ziele festgelegt.
Wie lauten Ihre Ziele?
Erstens möchte ich der CDU wieder eine brennende Erzählung geben, die Aufbruch und Erneuerung vermittelt. Zweitens möchte ich gerne fünf bis zehn unterscheidbare Positionen haben zu anderen Parteien, damit klar ist, wofür die CDU steht und wofür nicht. Das sind meine Ziele und Sie können mich daran messen.
Dann nennen Sie doch mal drei Alleinstellungsmerkmale der CDU!
Ich will das Ergebnis der Programm- und Grundsatzkommission nicht vorwegnehmen. Das muss sich noch entwickeln, der Prozess dazu läuft. Aber wenn Sie mich persönlich fragen, finde ich als ersten Punkt extrem wichtig, dass wir mit dem Geld, das der Staat einnimmt, auskommen. Zweitens müssen wir die Partei sein, die das Lohnabstandsgebot hochhält, dass Arbeit also mehr belohnt wird als Nichtarbeit.
Und drittens?
Drittens haben wir als CDU das verpflichtende Gesellschaftsjahr verabschiedet. Das müssen wir jetzt so austarieren, dass junge Menschen Bock darauf haben, das nach ihrer Schulzeit zu machen.
Zum Schluss Ihres Buches schreiben Sie versöhnlich, Deutschland habe die besten Voraussetzungen für einen Mentalitätswechsel. Haben Sie Angst vor der eigenen Courage bekommen?
Ich habe das Glück gehabt, während des Studiums und der Promotion ein Jahr im Ausland unterwegs gewesen zu sein, und habe schon viel gesehen von der Welt. Und ich gehöre zu den Menschen, die grundsätzlich Deutschland lebenslänglich gebucht haben. Weil ich einfach glaube, dass wir hier ein "Ökosystem" haben, was es so anderswo nicht gibt auf diesem Globus, wenn ich an den ländlichen Raum denke, an die Forschungsinstitute, Universitäten, an die Familienunternehmen, an den Mittelstand, oder auch die duale Ausbildung. Das ist schon ein Alleinstellungsmerkmal. Deshalb bin ich grundsätzlich der Meinung, dass wir Top-Voraussetzungen haben, um aus dieser Krise wieder gestärkt hervorzugehen. Aber wenn ich am Anfang der Krise das Hemd falsch zuknöpfe, kriege ich es am Ende nicht mehr zu.
Wie meinen Sie das?
Wir stehen vor einer sehr harten Rezession. Deshalb müssen wir jetzt höllisch aufpassen, dass wir gleich zu Beginn zielgerichtet die Unternehmen richtig auffangen. Ich spreche jeden Tag mit kerngesunden Unternehmen. Das sind alles Menschen, die nicht umsorgt am Trog des Staates sitzen wollen, sondern ihr Leben selbst in die Hand nehmen und Eigeninitiative zeigen wollen. Und die werden jetzt durch den exogenen Schock in die Knie gezwungen. Da muss der Staat umgehend und zielgerecht unterstützen und nicht erst nach einem Jahr.
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