China ist auf dem Weg zu einer Weltmacht. Doch westliche Staaten schaffen es nicht, sich zu positionieren. China-Experte Frank Sieren erklärt im Interview, welche Fehler Aussenministerin Annalena Baerbock und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf der internationalen politischen Bühne machen – und er zeigt auf, was Angela Merkel besser gemacht hat. Zuallererst, glaubt Sieren, muss sich die EU auf eine gemeinsame Strategie einigen.

Ein Interview

Herr Sieren, was sind die Absichten Chinas?

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Frank Sieren: China möchte wieder so gross und mächtig werden, wie es bis Anfang des 19. Jahrhunderts war, mit 30 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft. Und China möchte in eine Position kommen, in der es wieder machen kann, was es will, ohne dass andere Länder dazwischenfunken und sich ihm in den Weg stellen. Was es traditionell nicht möchte: andere Länder von seinem politischen System und seinen Werten überzeugen.

Das ist dieser alte Gedanke des "Reichs der Mitte". China hat sich als Mittelpunkt gesehen und alle anderen waren Barbaren. Um die musste man sich nicht kümmern, die durften Tribut zollen, aber die haben China nicht ins Geschäft geguckt.

Was bedeuten diese Absichten für die globale Machtordnung?

Dass zum ersten Mal eine multipolare Weltordnung entsteht. Das bedeutet, dass die Minderheit des Westens, so wie es jetzt jahrhundertelang der Fall war, die Spielregeln der Mehrheit der Welt nicht mehr bestimmen kann. Das ist eine Entwicklung, die man mit Fug und Recht als epochal bezeichnen kann.

Schaut man sich die Prognosen an, liest man immer wieder, dass die Bevölkerung bis zum Jahr 2100 um etwa die Hälfte schrumpfen wird. Das bedeutet auch, dass die Bevölkerung immer älter wird. Kann eine überalterte Bevölkerung solche Ziele überhaupt umsetzen?

Das wissen wir nicht, weil wir noch nicht verlässlich einschätzen können, wie sich die Digitalisierung und die Automatisierung auf den Arbeitskräftebedarf auswirken wird. Es kann sogar ein Vorteil sein, weniger junge Leute zu haben. Dann nämlich, wenn in der Wirtschaft, und das ist gar nicht mehr so unrealistisch, die Arbeit hauptsächlich von Robotern erledigt wird. Diese Entwicklung ist Gegenstand verschiedener Forschungsteams: Wie kann man mit weniger jungen Menschen ein so gutes Wirtschaftswachstum erreichen, dass die Alten eine gute Rente bekommen? Es geht also darum, die Gewinner der Roboterisierung zu besteuern, um das Geld den Alten zu geben. Alte an sich sind kein Problem. Arme Alte sind ein Problem.

Und sollte diese Rechnung nicht aufgehen, haben die Chinesen noch einen Joker, den die Amerikaner und viele westliche Länder schon längst gezogen haben: Sie können noch Einwanderungsland werden. Peking könnte, wenn es eng wird, von einem auf den anderen Tag beschliessen, für junge Nachbarn die Tore öffnen.

Jörg Wuttke, der scheidende Präsident der Europäischen Handelskammer, hat kürzlich in der FAZ gesagt, dass China die USA in den nächsten Jahren definitiv nicht überholen werde.

Ich kenne Jörg Wuttke gut und es wundert mich, dass er das gesagt hat. An Kaufkraft gemessen, und das ist die realistischere Messmethode für das Bruttoinlandsprodukt, ist China schon seit einigen Jahren grösser als die USA. Dieses Messinstrument wollen aber weder die Amerikaner noch die Chinesen benutzen. Die Amerikaner wollen nicht überholt werden und die Chinesen wollen, dass man sie für kleiner hält als sie sind.

Ich sehe in der näheren Zukunft kein realistisches Szenario, in dem das Wachstum zusammenbrechen würde. China hat im ersten Halbjahr 2023 einen Handelsbilanzüberschuss von über 60 Milliarden pro Monat erwirtschaftet. Die USA ein Defizit von durchschnittlich 68 Milliarden – pro Monat.

Auch nicht, wenn es zu einem Krieg mit Taiwan käme?

Das wäre ein Krieg, den keiner will. Die Nachteile wären zu gross. In Taiwan werden über 60 Prozent aller Computerchips auf der Welt hergestellt. Ein Krieg würde bedeuten, dass die gesamte Weltwirtschaft stillstehen würde. Wir haben vor zwei Jahren gesehen, was schon ein schiefliegendes Schiff anrichten kann. Einen Taiwankrieg will wirklich niemand. Auch Peking nicht. Der Preis dafür wäre zu hoch.

China hat einen Anteil von 18 Prozent an der Weltwirtschaft. Putin hat mit seinen 2,8 Prozent viel weniger zu verlieren. Ein solches Risiko geht man nur ein, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht und alles auf eine Karte setzt. Also eine grosse Wirtschaftskrise oder politische Unruhen im Land, und beides sehe ich derzeit nicht.

Es gibt Beobachter, die sagen, dass China in den nächsten drei bis fünf Jahren eine Wirtschaftskrise einholen wird.

Ich sehe nicht, dass der grosse Trend sich ändert: China wird immer stärker, die USA relativ dazu schwächer. Wirtschaftskrisen fallen nicht vom Himmel. Sie kündigen sich lange an. Man hat ein Handelsbilanzdefizit. Um seine Einkäufe zu bezahlen, verschuldet man sich im Ausland. Wenn das nicht mehr reicht, geht man ans Sparbuch. Das sind bei Ländern die Devisenreserven. Wenn die abgeschmolzen sind, druckt man Geld – und die Inflation schiesst nach oben. Das Wachstum bricht ein. China hingegen erzielt einen Rekordüberschuss nach dem anderen, hat kaum Auslandsschulden, sehr hohe, stabile Devisenreserven, keine Inflation, ein Wachstum von über fünf Prozent. Die Binnenschulden sind zwar hoch, aber die spielen keine Rolle, solange man keine Auslandsschulden aufnehmen muss.

Woran machen Sie fest, dass die globalen Machtverhältnisse schwanken?

Der Westen bekommt keine Mehrheit mehr in der G20. Die BRICS-Staaten haben bereits heute eine knapp grössere Wirtschaftskraft als die G7 und vertreten 40 Prozent der Weltbevölkerung, während die G7-Staaten nur 10 Prozent vertreten.

Im vergangenen Jahr hat Joe Biden die ASEAN-Staaten nach Washington eingeladen. Das sind kleine Länder, die zusammen wirtschaftlich so gross sind wie Japan. Die sind gar nicht hingefahren und haben gesagt: "Wir treffen uns gerne mit dir, wenn wir besprechen, was wir gemeinsam tun. Wir treffen uns aber nicht mit dir, wenn du bestimmen willst, wie wir mit anderen Staaten umgehen." Und das ist eine völlig neue Entwicklung.

Es ist für mich eine riesige Überraschung, dass diese aufsteigenden Länder wie China, Indien, Brasilien, unabhängig ihrer politischen Systeme und ihres wirtschaftlichen Entwicklungsstandes, sich jetzt zusammentun, um zu verhindern, dass die Minderheit des Westens die Spielregeln für die Mehrheit der Welt bestimmt.

Geheimpapier: Bundeswehr kritisiert ukrainische Kriegsführung

Die Bundeswehr kritisiert die ukrainische Armee. Das geht aus einem Geheimpapier hervor. Unter anderem würden die im Westen gelernten Kriegstechniken nur unzulänglich angewandt.

Welche Rolle spielt Deutschland und Europa dabei?

Viele Politiker versuchen, die alte Weltordnung noch irgendwie zu halten. Die ist aber nicht zu halten. Das ist ein bisschen so wie beim Adel und Bürgertum im 19. Jahrhundert. Der Adel hat, als Minderheit, die Spielregeln der Mehrheit bestimmt. Und irgendwann haben die Bürger sich dagegen aufgelehnt. Das war der Beginn des Abstiegs des Adels. Die schlauen Adligen haben sich mit den aufsteigenden Bürgern zusammengetan. Die bornierten Adligen blieben stur gegenüber den Aufsteigern und haben ihre Macht verloren.

Und Deutschland bleibt stur?

Wir unterschätzen jedenfalls das Tempo, mit dem wir an Bedeutung verlieren, so wie ganz Europa. Wir haben nicht verstanden, dass wir uns in globalen Machtverhältnissen bewegen müssen, die sich verändern. Das gilt auch für die Wirtschaft.

Über viele Jahre konnten wir herstellen, was wir wollten. Es hatte die beste Qualität auf der Welt und es wurde gekauft. Deutschland war das sicherste Land, das Land mit dem besten Sozialsystem, das Land mit den besten Hidden Champions, mit den besten Autos und so weiter. Diese Zeiten sind vorbei. Alles relativiert sich gerade.

Diese Weltordnung der Generation Golf, in der dieser Reichtum selbstverständlich ist, löst sich gerade auf. Und anstatt die Chancen der sich verändernden Weltordnung zu nutzen und unsere Interessen in diese neue Weltordnung einzubringen, versuchen wir mit aller Kraft, daran festzuhalten. Der Prototyp dieser Politik in Deutschland ist Annalena Baerbock.

Wie meinen Sie das?

Sie vertritt eine wertegeleitete Aussenpolitik, die davon ausgeht, dass die Welt sich so verhalten soll, wie sie und Teile ihrer Partei das für richtig halten. Wir bestimmen die wertebasierte Weltordnung, die anderen müssen sich daran halten, sonst werden sie mit Sanktionen überzogen. Sie handelt sicher in guter Absicht. Doch sie verkennt völlig die realen Machtverhältnisse. Die Mehrheit der Welt ist nicht mehr gezwungen, das zu tun, was wir wollen.

Zudem hat sie keine Mehrheit für ihre Politik in Europa. Frankreich und auch Italien, Spanien oder die Niederlande sehen das anders. Aber sie hat auch keine Mehrheit für ihre Politik in der Koalition, und selbst in der eigenen Partei ist ihre Position umstritten. Jürgen Trittin, der aussenpolitische Sprecher der Grünen Fraktion, stützt ihre Position nicht. In China, aber auch in Indien oder Brasilien fragt man sich bereits, für wen Baerbock eigentlich spricht, wenn sie dort hinreist und ihre Weltordnung als die globale Weltordnung verkaufen möchte.

Das war bei Merkel anders?

Man kann von Merkel halten, was man will, aber wenn sie eine Position vertreten hat, hat sie im Vorhinein die wichtigsten EU-Länder mit an Bord geholt. Damit hatte ihre Stimme Gewicht.

Auch als die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen China besucht hat, wurde sie gefragt, für wen sie eigentlich sprechen würde. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz hatten eine andere Position. Die Vorstellung, Europa sei der Nabel der Welt, gibt es also nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei der CDU. Es geht nicht mehr anders: Wir müssen uns in Europa erst einmal auf eine gemeinsame Linie einigen. Diese Linie muss die neuen Machtverhältnisse, in denen die Aufsteigerländer die Mehrheit haben, im Blick behalten.

Und sie muss international konsensfähig sein, weil wir sie sonst nicht durchgesetzt bekommen. Wer glaubt, das nicht nötig zu haben, geht auf der internationalen politischen Bühne unter.

Wenn Europa wirtschaftlich keine grosse Rolle mehr spielt: Nimmt man uns noch ernst, wenn wir unsere humanitären Werte in der Welt vertreten möchten?

Dass viele dieser Werte sinnvoll und gut für die Welt sind, daran zweifelt niemand. Natürlich müssen wir auch weiterhin unsere Werte vertreten und wir dürfen sie nicht aufgrund von wirtschaftlichen Interessen aufgeben. Der entscheidende Punkt ist, dass wir andere Länder nicht mehr zwingen können, unsere Werte anzunehmen. Wir müssen sie überzeugen. Und es bringt nichts, mit Ländern wie China von oben herab zu sprechen. Und schon dreimal nicht sollten wir glauben, wir können uns unsere Doppelmoral leisten. Wir können nicht mehr Mitbestimmung für die Menschen in China fordern, aber auf globaler Ebene Mitbestimmung und das Mehrheitsprinzip verweigern.

Deswegen täte Europa gut daran, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, die die globalen Institutionen so umbauen will, dass sie die Mehrheitsverhältnisse in der Welt realistisch widerspiegeln, auch wenn es bedeutet, dass die G7-Länder nicht mehr automatisch bestimmen.

Haben Sie einen besseren Vorschlag, wie man mit Ländern wie Russland oder China umgehen sollte?

Wenn Baerbock auf dem G20-Gipfel die Faust hebt und Lawrow zuruft: 'Hören Sie auf mit dem Krieg!', hat sie nichts gewonnen. Das ist zwar moralisch gesehen richtig, es führt aber dazu, dass Lawrow die Rollläden runterlässt. Und eigentlich wäre es die Aufgabe einer Aussenministerin, sich mit Lawrow in ein Zimmer zu verziehen und so lange mit ihm zu reden, bis beide Lösungsansätze sehen, auch wenn es zunächst aussichtslos erscheint.
Wenn Baerbock die Faust hebt, sagt sie im Grunde nur, dass sie die Gute ist und Lawrow der Böse. Damit hebt sie sicher ihre Beliebtheit in Deutschland, und da wird sich auch gewählt, insofern ist das taktisch gar nicht so falsch. Das Problem ist nur: Das ist keine nachhaltige Aussenpolitik, deren Aufgabe es ist, Auswege aus Konflikten zu finden.

Die Inder haben, als Lawrow zum G20-Treffen nach Delhi kam, einen Saal mit 1.000 Leuten gefüllt, ihn eine Stunde reden lassen und ihm zugehört. Er hat an mehreren Stellen Applaus bekommen und die Leute haben ihm interessiert zugehört, weil sie verstehen wollten, wie er argumentiert – was nicht bedeutet, dass sie seine Argumentation teilen. An einer Stelle wurde er ausgelacht. Und diese 20 Sekunden liefen in den deutschen Medien.

Der Tenor: Indien lacht über Lawrow. Aber sind das nicht eigentlich unsere Werte, die die Inder uns da vormachen? Die Tugend der Meinungsfreiheit?

Es gibt doch aber auch globale Institutionen, die geschaffen worden sind, um ein humanitäres Völkerrecht durchzusetzen.

Ja, aber ihre Machtverhältnisse spiegeln nicht mehr die heutige Weltordnung wider. Warum ist England ein ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und Indien oder Brasilien sind es nicht? Mitunter werden die globalen Institutionen einfach ignoriert, wenn sie einem nicht passen. Die USA erkennen den Internationalen Seegerichtshof nicht an, verlangen jedoch von China, dass es sich im südchinesischen Meer daran hält. Oder es werden Mehrheitsentscheidungen der Vereinten Nationen im Westen einfach ignoriert. Wenn es im UN-Menschenrechtsrat, wie kürzlich passiert, eine deutliche Mehrheit gegen unilaterale Sanktionen gibt, wie sie hauptsächlich von westlichen Staaten verhängt werden, dann ist das eine historische Entscheidung der Mehrheit der Welt.

Im Westen tut man so, als sei nichts geschehen, weil man Sanktionen gegen Putin möchte, auch wenn die Mehrheit der Welt sie nicht mitträgt und sie deswegen nicht greifen.

Welche Rolle wird das Militär in den nächsten Jahren und in diesem globalen Kräftemessen spielen?

Ich glaube, wir haben inzwischen die Chance, unilaterale Alleingänge grosser Länder zu stoppen. Das wäre ein riesiger, zivilisatorischer Fortschritt. Das würde bedeuten: Egal, welches Land in ein anderes Land einmarschiert – ohne die Zustimmung der UN hat es die Mehrheit der Welt gegen sich. Darauf sollte sich die Mehrheit der Welt nun einigen. Einfach wird das nicht, aber die Chancen dafür stehen besser denn je.

Zur Person:
Frank Sieren ist einer der führenden deutschen China-Experten. Der Journalist, Autor und Dokumentarfilmer lebt seit 1994 in Peking. Seitdem hat er für die "Süddeutsche Zeitung", die "Wirtschaftswoche", die "Zeit", das "Handelsblatt" und viele andere Medien gearbeitet. Zudem hat er mehrere Spiegelbestseller veröffentlicht.
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