Chinas Wirtschaftsmotor stottert und der Unmut im Land wächst. Die wirtschaftliche Entwicklung ist hinter den Erwartungen zurückgeblieben, immer mehr junge Menschen finden keinen Job mehr. Daraus ergeben sich Probleme für Xi Jinping und die kommunistische Partei.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Der Deal der Kommunistischen Partei Chinas mit dem Volk lautete lange: Wohlstand gegen politische Enthaltung, nach dem Motto "Wir sorgen für euch, ihr haltet die Füsse still". Lange hat das gut funktioniert: Millionen Chinesen haben in den vergangenen Jahrzehnten den Weg von der Armut in die Mittelschicht geschafft.

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Jetzt aber beginnt das Versprechen zu bröckeln. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 17 Prozent. Gesunken ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr nur, weil der Machtapparat die offizielle Berechnungsgrundlage geändert hat. Tatsächlich dürfte eher einer von fünf Chinesen zwischen 16 und 24 Jahren keinen Job haben.

Hohe Jugendarbeitslosigkeit in China

Immer mehr junge Menschen werden zu sogenannten "Vollzeit-Kindern" – sie ziehen nach dem Studium wieder zurück in ihr Elternhaus und kümmern sich um Haushalt und Eltern. Im Gegenzug gibt es Unterkunft, Essen, finanzielle Unterstützung. Eine Anstellung haben sie nicht.

Für die über 11 Millionen jungen Hochschulabsolventen, die in diesem Sommer neu auf den Arbeitsmarkt kamen – doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren –, gibt es nicht genug Jobs. Die Bewerberzahlen für Beamtenstellen schiessen in die Höhe. Neben den Eltern bleibt einzig die Flucht aufs Land oder in den Billiglohnsektor. Versicherungen, eigene Kinder, eine Hypothek – viele junge Menschen in China können sich das nicht mehr leisten.

An das Versprechen von Xi Jinping glauben viele nicht mehr. Online formiert sich Widerstand, bei dem sich junge Menschen in Absolventenkleidung auf dem Boden liegend zeigen oder ihre Zeugnisse wegwerfen. Nicht selten werden solche Videos schnell gelöscht, denn sie gefallen dem Regime überhaupt nicht.

Chinas Wirtschaftsmotor stottert

Und die jungen Menschen sind nicht die einzigen, bei denen sich Widerstand formiert. Zunehmend trifft die schwächelnde Wirtschaft auch den Mittelstand. In den ersten beiden Quartalen blieb das Wirtschaftswachstum hinter den Prognosen von Analysten zurück.

Laut aktuellen Schätzungen soll das reale Bruttoinlandprodukt zwischen 2024 und 2029 kontinuierlich auf 3,31 Prozent sinken. Der Shanghai Composite Index, einer der wichtigsten Aktienindizes in China, ist innerhalb des vergangenen Jahres von über 3.100 auf unter 2.800 Punkte gefallen. Der Dax ist im selben Zeitraum immer weiter nach oben geklettert. Der chinesische Sozialanthropologe Xiang Biao vom Max-Planck-Institut spricht laut "tageschau.de" vom "Ende des chinesischen Wirtschaftswunders".

Auch Kristin Shi-Kupfer, Professorin für Sinologie an der Universität Trier, verfolgt gespannt die wirtschaftliche Situation in China. "Das Protestpotenzial wächst", sagt sie unserer Redaktion und verweist unter anderem auf die NGO "Freedom House", die im sogenannten "China Dissident Monitor" Protest im öffentlichen Raum und online trackt.

Die NGO verzeichnet ein Protest-Plus von 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Shi-Kupfer sagt: "Drei Viertel der registrierten Prozesse – etwa 2.000 bis 3.000 in den letzten beiden Jahren – hatten mit wirtschaftlichen Faktoren zu tun."

China in der Immobilienkrise – und Schuld sein sollen die USA

Laut China Labor Bulletin haben auch Arbeiterstreiks zugenommen. Ein grosser Anteil entfalle dabei auf Arbeiter, die sich über unbezahlte Löhne oder wegen Verletzung von Arbeitsvertragsrechten beschwerten. "Aber die zweitstärkste Gruppe sind zunehmend Immobilienbesitzer, die in Wohnungen oder Häuser investiert haben, die aber nicht fertiggestellt worden sind, weil die Immobilienfirmen Pleite gemacht haben", sagt Shi-Kupfer.

Denn China steckt in einer ausgewachsenen Immobilienkrise: Die Preise sind eingebrochen und das, obwohl gerade der Wohnungskauf als eine der wichtigsten materiellen Sicherheiten in China galt. "Die chinesische Regierung betont immer wieder, dass die wirtschaftlichen Herausforderungen auch an der ungerechten Behandlung Chinas liegen – vor allem durch die USA", beobachtet die China-Expertin. Dabei sei der Handelskrieg mit den USA natürlich nicht die ganze Wahrheit.

Die wirklichen Probleme und Ursachen würden an anderer Stelle liegen, zum Beispiel an den Nachwehen der Corona-Politik, der schwächelnden Inlands-Nachfrage oder der harschen Kontrolle des Privatsektors.

"China muss sein Wachstumsmodell auf grundsätzlich neue Füsse stellen und wegkommen von hohen staatlichen Investitionen und dem alleinigen Setzen auf den Wachstumsmotor Immobilienmarkt und Exporte", sagt Shi-Kupfer. Das Land brauche ein nachhaltiges, sehr viel stärker durch Binnenkonsum und Wettbewerb getriebenes Wachstumsmodell. "All das zu schaffen, ohne dass die Kommunistische Partei ihren Kontrollanspruch aufgibt, ist zunehmend eine Quadratur des Kreises."

Die Unzufriedenheit wächst – und damit der Druck auf Xi Jinping

Selbst die chinesische Regierung habe in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich gemacht, dass die Umstände zunehmend schwieriger werden. "Sie hat dazu aufgerufen, dass die Leute ihre Ärmel hochkrempeln und sich 'Glück erkämpfen müssen'", erläutert Shi-Kupfer. Vom einstigen Versprechen sei man zurückgerudert. "Es heisst nicht mehr paternalistisch: 'Wir können euch alle rundum versorgen', nun heisst es 'Ihr habt auch Verantwortung'."

Kurzfristig hält sie den Unmut im Land für Xi Jinping nicht für allzu gefährlich. "Der chinesische Parteiapparat ist sehr gut in der digitalen Überwachung und erkennt Proteste, auch wenn sie sich online versuchen zu organisieren, sehr schnell und unterbindet sie", sagt sie.

Mittelfristig gebe es aber durchaus eine Gefahr für Xi: "Die unterschiedlichen Gruppen und die beständige Zahl von Vorkommnissen zeigt, dass es nicht nur Proteste gegen eine lokale Regierung sind", meint Shi-Kupfer. So würden sich Bürger teilweise darüber beschweren, dass das System an sich korrupt sei, dass Xi Jinping beziehungsweise der Parteistaat die Leute zusammenschlage und sich nicht um die Belange der Menschen kümmere.

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"Schon bei den Protesten im November 2022 hat es viele Beobachter überrascht, dass sich plötzlich eine von jungen Leuten und städtischer Mittelschicht getragene Bewegung in mehreren Städten organisiert hat", erinnert Shi-Kupfer. Das könne durchaus wieder passieren, denn die betroffenen Gruppen würden zunehmend die Hoffnung verlieren, dass die Regierung wirklich etwas an der Lage ändern kann oder will. "Die online zu beobachtende Frustration nimmt zu. Das könnte für die chinesische Regierung gefährlich werden."

Der Staatsapparat weite deshalb bereits jetzt seine Repressionen und Überwachungen aus: "Bei einem neuen populären Online-Game, bei dem es um einen bekannten Roman geht, wurde sogar direkt eine ganze Liste von Themen mitgeliefert, über die man nicht im Live-Chat sprechen darf, auch soziale und individuelle Bereiche gehören dazu", sagt Shi-Kupfer. Solche Sprechverbote gäbe es auch zunehmend an Schulen und Universitäten.

Eins macht der Expertin jedoch Hoffnung: "Es gibt in China Menschen, die sagen: 'Wir sind bereit, für Gerechtigkeit, für mehr Freiheit, für mehr Mitbestimmung auf die Strasse zu gehen.' Das hat in China einen hohen Preis." Die aktuellen Entwicklungen zeigten, dass ein extrem totalitäres System zumindest Risse bekommt.

Über die Gesprächspartnerin

  • Prof. Dr. Kristin Shi-Kupfer ist Sinologin und Politikwissenschaftlerin. Sie lehrt und forscht an der Universität Trier unter anderem zur gegenwärtigen Politik und Gesellschaft Chinas, speziell zu Chinas digitaler Entwicklung, gesellschaftlichen Gruppen und digitalen Medien. Sie ist Senior Associate Fellow am Mercator Institut für Chinastudien (Merics) in Berlin.

Verwendete Quellen:

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