- Chinas Bevölkerung ist nach offiziellen Angaben das erste Mal seit Jahrzehnten geschrumpft.
- Dass die Zahl überhaupt veröffentlicht wurde, könnte ein Indiz für eine zunehmende Überforderung des Landes mit seiner Demografie sein.
- Davon könnte ausgerechnet Europa profitieren.
Es klang wie ein Offenbarungseid, als Chinas Staatspräsident Xi auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei (KP) im Oktober vergangenen Jahres verkündete: "Wir werden ein politisches System zur Steigerung der Geburtenrate einrichten und eine proaktive nationale Strategie als Antwort auf die Bevölkerungsalterung verfolgen." Ein Vierteljahr später zeigte sich, warum Xis Aussage, die fast als Fehlereingeständnis gelten kann, notwendig geworden war.
Zum ersten Mal seit sechs Jahrzehnten, so teilte das Pekinger Statistikamt am vergangenen Dienstag mit, sei das bevölkerungsreichste Land der Erde geschrumpft: auf 1,411 Milliarden Einwohner im Dezember 2022. Damit leben rund 850.000 Menschen weniger im Reich der Mitte als im Dezember zuvor. Der Bevölkerungsrückgang wäre der erste seit den Jahren 1960 und 1961, als die fehlgeleitete Industrialisierungskampagne Mao Tsetungs Millionen Menschen das Leben kostete.
Die Geburtenrate im Jahr 2022, so die Pekinger Statistiker, lag demnach bei nur noch 6,77 Neugeborenen pro 1000 Einwohner, die Zahl der Geburten sank auf unter zehn Millionen. Beides historische Tiefstände. Gleichzeitig lag die Sterberate bei 7,37 je 1000 Einwohner, was rechnerisch ein negatives Bevölkerungswachstum von 0,6 je 1000 Einwohner ergibt.
Bemerkenswert an dieser Nachricht ist nicht das Faktum selbst. Den offiziellen Verlautbarungen aus Peking, der "Peak China" stehe noch bevor, wurde in den letzten Jahren von ausländischen Experten ohnehin immer weniger Glauben geschenkt.
Vieles spricht dafür, dass sich der Bevölkerungsrückgang bereits auf mehrere Millionen Menschen addiert hat und dieser nicht bei 850.000 liegt, wie offiziell kolportiert. Interessant ist allerdings, dass sich die chinesische Politik in diesem Jahr offenbar genötigt sah, die wenig schmeichelhaften Zahlen offiziell zu verkünden.
China schönt Zahlen, die die Politik schlecht dastehen lassen
"Schlechte Nachrichten werden in China ungern veröffentlicht", sagt der Demografieexperte Reiner Klingholz. "Deshalb haben solche Fälschungen in China eine lange Tradition." Klingholz verweist etwa auf die offiziellen chinesischen Geburtenziffern, die schon zu Zeiten der bis 2015 geltenden Ein-Kind-Politik immer wieder grosszügig nach oben korrigiert worden seien, um Fehleinschätzungen zu kaschieren oder aufgeblähten Behörden nicht die Legitimationsgrundlage zu entziehen.
So wachte bis 2015 eine staatliche Kommission für Gesundheit und Familienplanung über die Einhaltung der Ein-Kind-Politik - eine einflussreiche Behörde mit Millionen von Mitarbeitern. "Die Kinderzahl pro Frau war aber schon Anfang der 2000er Jahre auf ein so niedriges Niveau gesunken, dass man die Ein-Kind-Politik aus demografischen Gründen hätte aufgeben müssen." Doch dann wäre auch die Kommission überflüssig geworden - also wurde lange lieber mit falschen Zahlen hantiert.
Die Schönfärberei könnte sich heute rächen. Denn die von 1980 bis 2015 geltende Ein-Kind-Politik, mit der Mao Tsetung das explodierende Bevölkerungswachstum Chinas begrenzen wollte, gilt als einer der Hauptauslöser für die Schrumpfungsspirale, in der sich China in den kommenden Jahren wiederfinden könnte.
Erst 2016 steuerte die Regierung um, indem sie Familien zunächst zwei und ab 2021 drei Kinder erlaubte. Doch mit 1,13 Geburten pro Frau im Jahr 2021 liegt das Land nicht nur deutlich unter dem OECD-Durchschnitt, sondern auch weit unter dem Wert von 2,1, der für eine langfristig stabile Bevölkerungszahl notwendig ist.
Vieles spricht dafür, dass die Abschaffung so gut wie keinen Einfluss auf die Geburtenrate hatte und Xis vollmundigem Versprechen, ein "politisches System zur Steigerung der Geburtenrate" zu schaffen, bislang kein schlüssiges politisches Konzept gefolgt ist.
Auch ohne Geburtenkontrolle ist Kinder-kriegen unattraktiv
Viele junge Männer und Frauen im Reich der Mitte lehnen es auch ohne Geburtenkontrolle dankend ab, viele Kinder grosszuziehen. Nicht zuletzt wegen der hohen finanziellen Belastung: Anders als in Deutschland sind Betreuung, Erziehung und Ausbildung teuer, die staatliche Unterstützung ist gering. Und auch die hohen Immobilienpreise tragen dazu bei, dass sich junge Menschen nur ungern eine Grossfamilie leisten.
Hinzu kommt: Die jahrelange Ein-Kind-Politik hat auch für ein Ungleichgewicht zwischen Mädchen und Jungen gesorgt, die Zahl der Chinesinnen im gebärfähigen Alter nimmt stetig ab. "Offiziell hätte die Schrumpfung um das Jahr 2032 beginnen sollen. Dass China den Rückgang schon jetzt einräumt, zeigt, dass die Regierung in der Vergangenheit mit falschen Zahlen hantiert hat."
Das Schrumpfen Chinas dürfte nicht nur dazu beitragen, dass die Weltbevölkerung Ende dieses Jahres nicht mehr wächst. "Peak China" könnte das Reich der Mitte auch in eine demografische Krise stürzen, die das gesamte Sozialsystem des Landes ins Wanken bringen kann. Schon heute muss eine sinkende Zahl von Erwerbstätigen für immer mehr Alte aufkommen – ein Trend, der sich in den kommenden Jahren noch beschleunigen dürfte, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der 1970er Jahre in Rente gehen.
2021 waren 201 Millionen Chinesen, also 14,2 Prozent der Bevölkerung, älter als 65 Jahre und damit der Erwerbsbevölkerung entnommen. Das World Economic Forum (WEF) schätzt, dass dieser Anteil bis 2050 auf ein Drittel der Bevölkerung steigen wird. "An den Werkbänken der Welt werden in absehbarer Zeit immer weniger Menschen arbeiten", sagt Klingholz. "China wird wahrscheinlich altern, bevor es reich genug ist, um die Alterung angemessen zu finanzieren."
Mit dieser Bevölkerungsentwicklung steht China nicht alleine da. Die OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) schätzt, dass sich derzeit mehr als 100 Länder im demografischen Wandel befinden - auch Deutschland gehört dazu. Problematisch ist jedoch, dass die Renten- und Gesundheitssysteme in China schlechter auf die Entwicklung vorbereitet sind als in den alternden westlichen Staaten.
Zuwanderung könnte demografische Probleme abfedern
Im Kern liegen daher drei Massnahmen auf der Hand, mit denen die chinesische Politik gegensteuern kann: Ein Produktivitätszuwachs der arbeitenden Bevölkerung, eine Anhebung des Renteneintrittsalters, das seit Jahrzehnten bei 60 (Männer) bzw. 55 (Frauen) stagniert, oder mehr Zuwanderung. Während die Anhebung des Rentenalters vor allem eine politische Frage ist und sich bei der Erzielung von Produktivitätszuwächsen die Frage stellt, wie wegfallende Arbeitsplätze kompensiert werden sollen, gibt es besonders bei der Zuwanderung noch Luft nach oben.
Denn heute arbeiten zwar mehr Ausländer im Reich der Mitte als je zuvor. Mit rund 1,4 Millionen Einwanderern im Jahr 2020 ist die Zahl der Immigranten dennoch verschwindend gering. China ist weit entfernt davon, ein Einwanderungsland zu sein, politische Initiativen, die auf die Anwerbung von Arbeitskräften im Ausland zielen, gibt es nur wenige. Denjenigen, die freiwillig kommen, macht es die chinesische Regierung bislang schwer. Als Westeuropäer oder Afrikaner die chinesische Staatsbürgerschaft zu erhalten, ist praktisch unmöglich.
Für den Rest der Welt, insbesondere dem von China als Hauptabnehmer ökonomisch abhängigem Europa, muss die demografische Entwicklung in dem Land keine schlechte Nachricht sein. Zwar gehen mit einer schrumpfenden Bevölkerung und dem damit verbundenen Rückgang des chinesischen Wirtschaftswachstums auch schrumpfende Absatzmärkte einher. Gleichzeitig sind aber auch positive Effekte denkbar, wenn ein Konkurrent auf dem Weltmarkt nach und nach schwächer wird.
Ein Beispiel ist Japan, das mit Pionieren wie Hitachi, Sony oder Panasonic bis Ende der 80er-Jahre Marktführer in fast allen technologischen Bereichen war. 40 Jahre später ist Japan vergreist, so hoch verschuldet wie kaum ein anderes Industrieland, gegen Zuwanderung nahezu abgeschottet - und in den meisten Bereichen der Technologieführerschaft weit abgeschlagen.
Demografieforscher Klingholz prognostiziert, dass China das gleiche Schicksal ereilen könnte. Er sagt: "Wenn es uns in Europa gelingt, uns besser auf den demografischen Wandel vorzubereiten als China, also massiv in Bildung zu investieren und eine kluge Anwerbepolitik für Fachkräfte zu betreiben, dann müssen wir den grossen Konkurrenten China weniger fürchten als bisher."
Verwendete Quellen:
- Germany Trade & Invest - Alterung der Gesellschaft wird in China zur Wachstumsbremse
- Wirtschaftliche Freiheit: Chinas Demografie-Wende schafft globalen Inflationsdruck
- United Nations: Population Devision (DESA)
- Time Magazine: China’s Shrinking Population: How It Happened and What It Means
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