Ex-Bundesrat Kaspar Villiger hat ein Buch über Demokratie geschrieben. Darin erklärt er den Erfolg des Schweizer Politsystems, von dem andere Länder lernen könnten. Doch er ist wenig optimistisch.
Als Parlamentarier, Bundesrat und Bundespräsident befasste Kaspar Villiger sich während Jahrzehnten mit dem politischen System der Schweiz. In seinem neuen Buch zieht er Schlüsse, warum die Schweizer Demokratie besser funktioniert als andere.
swissinfo.ch: Sie widmen das Buch Ihren Enkelinnen mit dem Wunsch, sie mögen in einer Welt voller Ungewissheiten niemals die Zuversicht verlieren. Das klingt recht pessimistisch. Machen Sie sich Sorgen um die Weltlage?
Kaspar Villiger: Dem grössten Teil der Menschheit geht es besser als je zuvor in der Geschichte. Aber die Risiken sind enorm, angefangen bei den Umweltproblemen über das Aufkommen demokratiefeindlicher populistischer Parteien, nuklearer Eskalationsrisiken, Terrorismus und zerfallende Staaten bis zum Risiko wohlstandsbedrohender Handelskriege. Natürlich, ich bin besorgt. Aber ich würde mich nicht so intensiv mit solchen Fragen befassen, wenn ich nicht Lösungen für machbar hielte.
swissinfo.ch: Der Erfolg der Schweiz beruht Ihrer Meinung nach auf einer ausbalancierten Mischung von Freiheit, Machtbegrenzung und Bürgerbeteiligung. Wie meinen Sie das?
K.V.: Die Wissenschaft lehrt uns, dass die Gefahr existenzieller Krisen eines Staates umso grösser ist, desto weniger die Macht der Exekutive kontrolliert ist. Die Bürgerbeteiligung schafft ein besseres Staatsverständnis, erhöht die Identifikation mit dem Staat und erhöht die Akzeptanz politischer Entscheide. Und nur in Freiheit können Menschen ihre Talente und ihre Kreativität entfalten.
swissinfo.ch: Ist das Schweizer Modell in andere Länder "exportierbar"?
K.V.: Das Schweizer System ist das Resultat generationenübergreifender Aufbauarbeit. Das ist nicht einfach exportierbar. Aber andere können davon lernen.
swissinfo.ch: Zum Beispiel Länder mit religiösen oder ethnischen Konflikten? Die Schweiz ist ja konfessionell, sprachlich, ethnisch und kulturell zersplittert. Trotzdem ist sie politisch aussergewöhnlich stabil. Sie führen das auf die politische Kultur zurück, die auf Mitwirkung der Bürger und Bändigung politischer Macht beruhe.
K.V.: Auf der Welt sind zahllose Grenzen völlig falsch gezogen. Deshalb sind ethnisch, religiös und kulturell homogene Staaten die Ausnahme. In der Folge bestehen in vielen Ländern spannungsreiche Minderheitsprobleme. Die Schaffung des Kantons Jura hat gezeigt, dass Föderalismus solche Probleme lösen kann. Patentrezepte gibt es nicht, und jedes Land muss seinen Weg suchen. Aber es gibt durchaus bewährte Prinzipien und Strukturen. Katalonien wäre so lösbar, aber mit Sturköpfen auf beiden Seiten ist die Situation sehr verfahren.
swissinfo.ch: Sie schreiben, Demokratie sei das beste Mittel gegen zwischenstaatliche Konflikte. Liessen sich Kriege also verhindern, wenn mehr Länder die direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild einführen würden?
K.V.: Es kommt praktisch nie vor, dass Demokratien gegenseitig einen Krieg auslösen. Deshalb ist sie das beste Mittel der Vermeidung zwischenstaatlicher Kriege. Dabei spielt es keine Rolle, ob es eine direkte oder parlamentarische Demokratie ist. Aber zwischenstaatliche Kriege sind nicht mehr das Hauptproblem heute, sondern landesinterne Konflikte. Da kann Demokratie sogar konfliktverschärfend wirken, beispielsweise dann, wenn Minderheiten durch Mehrheitsentscheide unterdrückt oder diskriminiert werden.
swissinfo.ch:Haben Demokratien also auch Nachteile?
K.V.: Ja. Der Hauptnachteil ist der Anreiz zur Gefälligkeitsdemokratie, also der Anreiz, um des Gewählt Werdens willen den eigenen Wählern – und Interessengruppen – Geschenke auf Kosten der Allgemeinheit zu machen. Ein weiteres Problem ist der Anreiz zur Verschuldung, weil Politiker für die von ihnen geschaffenen Schulden nicht persönlich haften und weil die Finanzierung von angenehmen Leistungen über Schulden attraktiver ist als die Erhöhung von Steuern. Man kann über die geschickte Gestaltung der Institutionen einen Teil der Fehlanreize mildern, und die Vorteile der Demokratie überwiegen deren Nachteile bei weitem. Aber Demokratie ist und bleibt eine anspruchsvolle Staatsform, die auch von den Bürgern einiges abverlangt.
swissinfo.ch: Wenn man unter Demokratie einzig das Treffen von Mehrheitsentscheiden verstehe, könne das zu Ergebnissen wie der türkischen Autokratie unter Erdogan führen, schreiben Sie. Was sollte man unter Demokratien denn anderes als das Treffen von Mehrheitsentscheiden verstehen?
K.V.: Weil mit Mehrheitsentscheiden auch grundlegende Rechte verletzt werden können, darf in einem menschenwürdigen Staat die Mehrheit nicht alles. Deshalb braucht die Demokratie den Rechtsstaat als Ergänzung. Sicherung grundlegender Rechte wie Freiheitsrechte, Menschenrechte, Gewaltenteilung etc. müssen von der Verfassung geschützt werden. Wenn das nicht geschieht, kann eine Diktatur der Mehrheit entstehen, die dann sehr rasch in eine gewöhnliche Diktatur münden kann. Weil das so ist, braucht eine Demokratie auch einen hinreichenden Konsens im Volk über solche Werte.
swissinfo.ch: Sie schreiben, die Volksrechte hätten eine integrierende Wirkung auf Minderheiten, weil sie gegen den Willen der Mehrheit ein politisches Problem traktandieren können, sei es durch ein Referendum oder eine Volksinitiative. In letzter Zeit hört man allerdings häufig die Kritik, die direkte Demokratie diskriminiere Minderheiten. Was sagen Sie dazu?
K.V.: Ich habe erwähnt, dass eine Mehrheit nicht alles darf. Aber unser Initiativrecht gestattet, dass man praktisch alles fordern darf. Hier ist es die Aufgabe der politischen Auseinandersetzung, die Problematik so intensiv zu diskutieren, dass das Volk einen verantwortungsvollen Entscheid im Wissen um allfällige Konsequenzen fällen kann. Wenn wir unsere Geschichte anschauen, wird man kaum behaupten können, unser Volk sei dieser Verantwortung nicht gerecht geworden.
swissinfo.ch: Im Buch schreiben Sie sogar, das Schweizer Volk habe häufig weiser entschieden als Bundesrat und Parlament. Können Sie konkrete Beispiele nennen?
K.V.: Das jüngste Beispiel ist das Volks-Nein zu Vorlage zur Altersvorsorge. Sie war weder gerecht noch nachhaltig und hätte die wirkliche Lösung des Problems nur in die Zukunft verschoben. Ob allerdings die Politik aus diesem Nein die richtigen Schlüsse ziehen wird, muss sich noch zeigen.
swissinfo.ch: Sie sind ein Fan der Volksinitiative, weil sie Regierung und Parlament dazu zwingt, sich auch mit missliebigen Themen zu beschäftigen, und die Entscheide des Volkes verbindlich sind. Das klingt alles gut und recht, aber ist es heute in der Schweiz wirklich immer noch so, wenn man an die Vorprüfung sowie Nichtumsetzung von Volksinitiativen denkt?
K.V.: Natürlich ist das immer noch so. Aber wenn unsorgfältig formulierte oder fast Unmögliches fordernde Initiativen angenommen werden, führt das zu Zielkonflikten. Dabei steht der Gesetzgeber oft vor kniffligen Gratwanderungen. Es ist auch ein Problem der Initianten, welche meines Erachtens ebenfalls eine grosse staatspolitische Verantwortung haben. Im Übrigen werden Initiativen nur mit grösster Zurückhaltung und nur selten ungültig erklärt.
swissinfo.ch: Sie kritisieren an Plebisziten wie dem Brexit, dass lange politische Prozesse der Meinungsbildung wie in der Schweiz fehlten, was zu irrationalen Ergebnissen führen könne. Geraten "lange politische Meinungsbildungsprozesse" nicht gefährlich nah an Propaganda?
K.V.: Die Brexit-Abstimmung war nicht direkte Demokratie, sondern Unfug. Weder war die Fragestellung klar genug, noch waren vorher durch solide Prozesse in Wissenschaft und Politik alle möglichen Folgen und Risiken und Strategien für den Ja- oder Nein-Fall ausdiskutiert worden. Dazu kommt, dass unser Volk jahrzehntelange Erfahrung mit solchen Entscheiden hat. In politischen Meinungsbildungsprozessen gibt es immer auch Propaganda, aber eben von allen Seiten, so dass sich das Stimmvolk durchaus eine Meinung bilden kann. Überdies ist zum Glück auch der Grosseinsatz finanzieller Mittel im Abstimmungskampf überhaupt keine Erfolgsgarantie.
swissinfo.ch: Schweizer in Gebieten mit Demokratieerfahrung haben seit dem Mittelalter eine höhere Kooperationspräferenz als Schweizer in Gebieten, deren Demokratieerfahrung erst nach der Befreiung durch Napoleon 1803 begann. Sie schliessen daraus, dass kulturelle Prägungen sehr zählebig sind und folglich die Einwanderung bei Überschreitung eines gewissen Masses die einheimischen Werte – in unserem Fall das genossenschaftliche und freiheitliche Denken - verwässern kann. Wird die Schweiz durch die Zuwanderung aus Deutschland, Frankreich und Italien EU-freundlicher sowie kritischer gegenüber der direkten Demokratie?
K.V.: Mich hat beschäftigt, dass in Deutschland offensichtlich 80 Prozent der deutsch-türkischen Doppelbürger bei der Abstimmung über die türkische Verfassung der gefährlichen Verwässerung der Demokratie zugestimmt haben. Es scheint, dass die Integration hinsichtlich der demokratischen Werte bis in die zweite und dritte Generation ungenügend gelungen ist. Dass bei uns das direktdemokratische System bei einem Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund von 36 Prozent nach wie vor gut funktioniert, zeugt von einer enormen Integrationskraft unserer politischen Kultur.
swissinfo.ch: Aber nochmals: Hat die Einwanderung aus Deutschland, Italien und Frankreich einen Einfluss auf die Meinung der Bevölkerung zur EU und der direkten Demokratie?
K.V.: Die Einwanderung aus Deutschland ist kein Problem, im Gegenteil, aber sie wurde in der Schweiz politisch instrumentalisiert. Klar gibt es auch bei Hochqualifizierten ein Integrationsproblem: Als Leiter eines Konzerns haben Sie keine Zeit, am Stammtisch mit Schweizern zu politisieren. Ich stelle bei Deutschen, die hier leben, aber häufig eine gewisse Bewunderung für die Schweiz fest, weil hier so gute Verhältnisse herrschen. Die meisten kommen nämlich mit dem Vorurteil hierher, dass die erleuchtete politische Klasse besser entscheiden kann als das einfache, überforderte Volk. In Deutschland wird zwar stark an Bürgerbeteiligung gearbeitet, es werden Diskussionszirkel und Internet-Vernehmlassungen durchgeführt, der Volkswille wird mit tausend wissenschaftlichen Methoden evaluiert und alle rühmen sich, wie sie auf das Volk hören – aber kaum kommt die Idee auf, das Volk könne auch direkt entscheiden, heisst es: "Das ist nicht möglich!" Deshalb glaube ich, dass die direkte Demokratie in der EU weitgehend noch ein Tabu ist. Die normalen Bürger wollen sie eigentlich – die Politik schottet sie aber ab.
swissinfo.ch: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat die Schweiz Ihrer Meinung nach keine Chance als Winzling gegenüber der EU und wird mittelfristig beitreten müssen. Wie realistisch ist die Vorstellung, die EU würde sich der schweizerischen politischen Kultur der Mitbestimmung der Bevölkerung annähern?
K.V.: Sie haben mich völlig missverstanden. Ich möchte den EU-Beitritt nach Möglichkeit überhaupt nie, und wenn wir unsere Hausaufgaben machen, können wir auch als Nichtmitglied erfolgreich überleben.
Ich habe auch während meiner Verhandlungen mit der EU über das Zinsbesteuerungsabkommen den klaren Eindruck bekommen, dass die kleinen Staaten der EU in den wesentlichen Fragen nichts zu sagen haben. Deshalb stimmt die These nicht, die Mitbestimmung in Brüssel würde im Beitrittsfall den Verlust an direkter Demokratie und Autonomie überkompensieren. Sollten wir aber durch wirtschaftspolitische Fehler unseren Wohlstand selber gefährden, könnte sich eines Tages der Beitritt aus der Not heraus aufdrängen.
swissinfo.ch: Ihr Buch trägt den Untertitel "Politik im Zeitalter von Populismus und Polarisierung." Unterscheidet sich die Schweiz in Sachen Populismus und Polarisierung von anderen europäischen Ländern?
K.V.: Ja. Bei uns kann man nicht sagen, die populistischen Bewegungen seien antidemokratisch. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) wird oft mit Le Pen in Frankreich und der AFD in Deutschland verglichen. Aber es gibt einen grossen Unterschied: Die SVP ist eine demokratische Partei, die zu den freiheitlichen Werten steht. Klar gibt es in der Schweiz sowohl rechts- als auch linkspopulistische Zuspitzungen, die am Schluss schlicht nicht mehr wahr sind. Das hat es schon immer gegeben, denken Sie nur an politische Plakate und Karikaturen in den 1930er-, 40er, oder 50-er-Jahren. Dennoch habe auch ich den Eindruck, dass die Polarisierung zunimmt und damit das Finden tauglicher Kompromisse erschwert. Wir sind auf einem gefährlichen Weg, ich würde mir mehr Dialog über alle Grenzen hinweg wünschen.
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