Reykjavik, Wien, Seoul, Los Angeles und Bern: Es sind dies Pionierstädte der direkten Demokratie. Seit einigen Jahren engagieren sich immer mehr lokale und regionale Regierungen für die Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger. Am Weltgipfel 2016, der vom 16. bis 19. November im baskischen Donostia/San Sebastian stattfindet, wollen rund 200 Fachleute die Entwicklung zu mehr Lokaldemokratie weiter vorantreiben.
Nur mit Mühe kämpfe ich mich zum verabredeten Treffpunkt durch. "Café Paris", hatte mir meine Kontaktperson bei den Stadtbehörden gesagt. Und jetzt stehe ich mitten im Schneesturm – es ist Ende Oktober – vor diesem Kaffeehaus im Zentrum von Reykjavik, der nördlichsten Hauptstadt der Welt.
"Betri Reykjavik" ("Besseres Reykjavik") heisst die Plattform der isländischen Metropole, wo im Zuge der grossen Finanzkrise vor sechs Jahren der Komiker Jon Gnarr zum Bürgermeister gewählt wurde – und damals versprach, alles "ganz anders zu machen". Daraus wurde natürlich wenig und Gnarr schmiss schon nach einer Amtszeit den Bettel wieder hin.
Doch Gnarrs Ideen von einer "besseren Demokratie" überlebten. "Über eine neue Internetplattform können sich heute alle Einwohner in die Lokalpolitik einschalten", beginnt Unnur Margrét Arnardottir im "Café Paris". Sie ist die Demokratiebeauftragte der Stadt Reykjavik, wo heute gut 130'000 der insgesamt 320'000 Isländerinnen und Isländer leben.
Im Hintergrund arbeitet derweilen ein Ausschuss des Gemeindeparlamentes an einer neuen "Demokratieverfassung" für die Stadt am Polarkreis. "Damit soll das neue Verständnis für eine partizipativere lokale Demokratie auch längerfristig verankert werden", sagt Unnur Margarét.
Kleines Netzwerk, grosse Fische
Reykjavik auf Island steht nicht alleine da, wenn es um einen demokratischen Neuanfang geht, der die Bürgerinnen und Bürger verstärkt ins Zentrum des Entscheidungsprozesses stellt. Rund um den Erdball haben in den letzten zehn Jahren kleinere und grössere Städte nach Krisen und entsprechenden politischen Umwälzungen den Ball des zunehmenden Misstrauens zwischen Wählern und Gewählten aufgenommen. Im koreanischen Seoul (10 Million Einwohner) hat Bürgermeister Park Won Soon die Rolle der Verwaltung innerhalb weniger Jahre umgekrempelt. Statt "für die Regierung arbeitet sie nun für die Bürger", sagt Park.
Dabei müssen sich viele Stadtregierungen nun erst erkämpfen, was an anderen Orten – etwa in den Städten, Gemeinden und Kantonen der Schweiz – schon seit längerem eine Selbstverständlichkeit ist: direktdemokratische Mitbestimmungsrechte für die Bewohner. Diese Rechte bieten die Möglichkeit, eigene Vorschläge mittels Initiativen auf die Tagesordnung der Behörden oder gar zur Abstimmung zu bringen. Mit dem Referendumsrecht können Bürger zudem Vorschläge der gewählten Politiker in Frage stellen und bei Bedarf an der Urne durch alle überprüfen lassen.
Zentralgewalten, die sich sperren
Vielerorts führen die Initiativen, mehr Demokratie auf lokaler Ebene gesetzlich zu verankern, zu Konflikten mit dem übergeordneten Gesetzgeber. Dies ist auch im baskischen Donostia/San Sebastian der Fall, dem Austragungsort des diesjährigen Demokratie-Weltforums.
Unlängst hat ein spanisches Zentralgericht ein entsprechendes Gemeindereglement für unzulässig erklärt. Konkret bedeutet dies: Eine auf kommenden Februar angesetzte Gemeindeabstimmung in San Sebastian, bei der es um Beiträge aus der Stadtkasse für Stierkämpfe ging, kann nicht stattfinden.
Ausgehend von der Einsicht, dass die Zukunft einer lebendigen Demokratie auf der lokalen Ebene beginnen muss, versuchen nun die Behörden in Donostia einen Ausbruch aus dem juristisch-politischen Dickicht – und haben Fachleute aus über 30 Ländern zum sechsten "Globalen Forum der Modernen Direkten Demokratie" eingeladen (siehe Box).
An dieser Weltkonferenz in Europas diesjähriger Kulturhauptstadt werden auch Vertreter aus der Schweiz über die reichen Erfahrungen und Praktiken mit Demokratie auf lokaler Ebene berichten. Darunter auch der Politikwissenschaftler Andreas Gross, einer der international renommiertesten Demokratiespezialisten. Selbst kleinere Institutionen wie etwa das Berner Polit-Forum Käfigturm sorgen schon seit Jahren für Aufsehen und Nachahmer, selbst in Asien.
Grossprojekte demokratisch abstützen
Gleichzeitig sind in vielen Städten der Welt, wo die direktdemokratischen Möglichkeiten bislang weniger ausgebaut waren als in der Schweiz, neue Formen der Beteiligung entwickelt worden. So hat sich etwa die Regierung der österreichischen Hauptstadt Wien bei grösseren Bauvorhaben zu einem umfassenden Bürgerdialog verpflichtet, sagt Maria Vassilakou.
Die Vizebürgermeisterin und Verantwortliche für Bürgerbeteiligung in Wiens Stadtregierung wird am Global Forum in Donostia über ihre Erfahrungen mit dieser neue Partizipationsform berichten.
Dazu werden auch Vertreter des deutschen Bundeslandes Baden-Württemberg ihre Arbeit vorstellen. Deren Ziel ist die Stärkung der lokalen Möglichkeiten der Mitbestimmung "von unten" zu stärken. "Auf unserem Portal zur Bürgerbeteiligung können sich Gemeindevertreter und einzelne Bürger informieren, sie können kommentieren und mitmachen", betont Fabian Reidinger, der zuständige Beamte im Stuttgarter Staatsministerium. Auch Reidinger wird am Global Forum teilnehmen und über die Erfahrungen in Stuttgart berichten.
Die Stadt als Ort von "mehr Demokratie" ist an der viertägigen Konferenz Gegenstand von runden Tischen, Podiumsdiskussionen und Workshops. Dabei werden auch die noch jungen Versuche in Barcelona, Madrid und Los Angeles zur Sprache kommen, wo im Rahmen dieser Millionenstädte neue Formen der Bürgernähe, Nachbarschaftshilfe und Budget-Entscheidungen ausprobiert werden.
Und weil diese lokalen Regierungsinitiativen bei den jeweiligen nationalen Zentralregierungen aus machtpolitischen Gründen nicht immer auf Gegenliebe stossen, wie das Beispiel aus der Gastgeberstadt zeigt, wollen sich die Demokratiestädte nun verstärkt auch grenzüberschreitendend vernetzen und anhand von "best practice" voneinander lernen. Ein Anfang dazu hat der Strassburger Europarat gemacht und die "Allianz für Bürgerbeteiligung" gegründet, der bisher 16 Städte aus 13 Ländern angehören.
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