Zehntausende demonstrieren in Grossbritannien gegen Premier Boris Johnson und die wochenlange Suspendierung des Parlaments. Für die einen ist es ein neuer Protest gegen den Brexit, für die anderen geht es um die Demokratie.
Mit Schlachtrufen wie "Boris, raus" und "Schäm' Dich, Boris" haben Zehntausende Demonstranten in Grossbritannien ihrem Ärger über Premierminister Boris Johnson Luft gemacht. Sie sind empört, dass Johnsons das Parlament zwei Monate vor dem geplanten Brexit, dem Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union, für gut vier Wochen suspendieren will.
Das beschränkt den Handlungsspielraum der Opposition und von Rebellen in der Regierungspartei, die einen EU-Austritt am 31. Oktober ohne Vertrag per Gesetz verhindern wollen.
Im ganzen Land gab es Demonstrationen unter dem Motto "Stop the Coup" - stoppt den Putsch, darunter in Manchester, Newcastle, Bristol und Belfast. Die Anti-Brexit-Initiative "Another Europe Is Possible" hoffte auf Hunderttausende Teilnehmer. Oppositions- und Labour-Chef Jeremy Corbyn, nahm an einem Protest in Schottland teil.
Das Land ist tief gespalten
Vor dem Regierungssitz in der Downing Street in London hatten tausende Menschen Trommeln und Pfeifen dabei. Viele schwangen blau-gelben EU-Fahnen. Immer wieder schwoll der Geräuschpegel auf der Parliament Street dramatisch an, wenn die Masse im Einklang: "Boris, raus!" skandierte. Die Residenz des Premierministers liegt keine 50 Meter entfernt in der Downing Street hinter einem meterhohen Gitter. Ob Johnson zu Hause war und die Proteste hörte, war unbekannt.
"Es geht um unsere Demokratie", sagte Studentin Audrey (23) der Deutschen Presse-Agentur über die Sprechchöre hinweg. Sie hielt ein selbst gemachtes Plakat hoch: "Ich bin einfach nur sauer" stand darauf. "Egal, ob man für oder gegen den Brexit gestimmt hat - er kann nicht einfach das Parlament schliessen." "Das Volk hat ihn nicht gewählt", sagte Mia (26) in der überwiegend jungen Menge. "Wir dürfen nicht zulassen, dass so ein Politiker uns in ein Desaster führt."
"Brexit ist eine nationale Schande", stand auf einem Plakat. Auf einem anderen war ein Bild von Johnson als Pinocchio zu sehen, mit einer Nase, die durch lügen wächst. "Vertraut ihm nicht", stand darauf. Das Land ist tief gespalten in Befürworter und Gegner des EU-Austritts. Aber auch die Befürworter sind gespalten: einige wollen nur einen geordneten EU-Austritt, der Übergangsphasen vorsieht. Andere wollen auch ohne Vertrag aus der EU.
Johnson beharrt auf Brexit Ende Oktober
Johnson will den Brexit am 31. Oktober durchziehen, egal wie. Die Mehrheit der Abgeordneten lehnt einen Austritt ohne Abkommen aber ab, weil sie Chaos und einen Konjunktureinbruch fürchten. Aber das von Johnsons Vorgängerin Theresa May ausgehandelte Abkommen ist im Unterhaus mehrfach durchgefallen.
Knackpunkt ist der Backstop, der Grenzkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland verhindern soll. Der Backstop sieht vor, dass Grossbritannien so lange eng an die EU gebunden bleibt, bis eine andere Lösung für die Grenze gefunden ist.
Das ist Johnson zu vage. Er verlangt Nachbesserungen, aber die EU hat es bislang ausgeschlossen, den Vertrag noch einmal zu ändern. Zudem habe die Regierung in London bislang nicht gesagt, wie das Grenzproblem sonst gelöst werden könnte.
Vor genau 25 Jahren, am 31. August 1994, hatte die paramilitärische katholische IRA, die Grossbritannien mit Terroranschlägen von der irischen Insel vertreiben wollte, einen Waffenstillstand verkündet. Sie machte damit den Weg für das Karfreitagsabkommen von 1998 frei, mit dem die jahrzehntelange Gewalt auf der geteilten Insel beendet wurde. Die Grenze wurde praktisch aufgehoben. Der Backstop soll garantieren, dass nach dem Austritt Grossbritanniens keine neuen Grenzkontrollen eingeführt werden müssen. © dpa
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.