Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten nach ihrer Zustimmung zur Armenier-Resolution in die Nähe von Terroristen gerückt. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz (SPD), äusserten sich empört über Erdogans Tiraden. Aber was sagen die türkischen Verbände in Deutschland zu den aktuellen Spannungen?
Der neue Streit mit der Türkei begann mit einer umstrittenen Forderung von Recep Tayyip Erdogan. Der türkische Ministerpräsident hatte den deutsch-türkischen Abgeordneten als Reaktion auf ihre Zustimmung zur Armenien-Resolution des Parlaments, durch die die Massaker aus dem Jahr 1915 als Völkermord anerkannt wurden, Bluttests nahe gelegt. Damit stellte er ihr "Türkischsein" in Frage.
Zudem rückte sie der Staatschef in die Nähe der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die für zahlreiche tödliche Anschläge verantwortlich gemacht wird. Die Parlamentarier, darunter der Grünen-Chef
"Morddrohungen und Bluttestforderungen finden wir abscheulich", hatte Gökay Sofuoglu (SPD), der Bundesvorsitzende des Verbands der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), zuvor in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa erklärt.
"Wir sind der Meinung, dass die Zeit, als man die Menschen nach Blut definiert hat, seit 1945 vorbei ist. Wir hoffen, dass diese Zeit nie wieder zurückkommt", teilt der Funktionär sowie die zweite Vorsitzende Aysun Aydemir in einer schriftlichen Antwort unserer Redaktion mit. Politische Auseinandersetzungen sollten sachlich und themenorientiert bleiben, heisst es weiter.
Als sich Bundestagspräsident Norbert Lammert im Bundestag zu den umstrittenen Äusserungen von Recep Tayyip Erdogan über die türkischstämmigen Abgeordneten äusserte, lobte er ausdrücklich den Verband der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD).
Drohungen "völlig inakzeptabel"
Als Ergebnis dieser gefährlichen Entwicklung hat auch der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg (TBB) die Morddrohungen türkischer Nationalisten als "völlig inakzeptabel" kritisiert. Auch wenn über den Inhalt der Armenien-Resolution in der türkischen Gemeinde gestritten werde, seien die Debatten darüber "legitimer Bestandteil demokratischer Auseinandersetzungen", teilte der Bund dem Rundfunk Berlin Brandenburg mit.
Der Verband der Türkischen Gemeinde betonte auf Anfrage, es sei nicht hinnehmbar, "dass Bundestagsabgeordnete aufgrund ihrer Überzeugungen um ihr Leben bangen müssen". Schliesslich appellierten der TBB und die TGD fast wortgleich an die türkische Community, ihre Kritik sachlich zum Ausdruck zu bringen und sich klar von den Feinden der Demokratie zu distanzieren.
Gegensätzliches Stimmungsbild
Innerhalb der Gemeinden und anderer deutsch-türkischer Organisationen ist das Stimmungsbild trotz dieser Appelle durchaus gegensätzlich. "Wir kritisieren auf einer Seite die Art und Weise wie die Armenier-Resolution im Bundestag verabschiedet worden ist", teilt uns die Verbandsspitze der Türkischen Gemeinde in Deutschland mit. "Aber wir kritisieren auch, dass vor allem gegen türkischstämmige Politikerinnen und Politiker eine Hetzkampagne geführt wird."
Auf solche Worte wartet man bei der Türkischen Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib) bisher vergeblich, wie auch Bundestagspräsident Lammert indirekt kritisierte. Der Dachverband der türkisch-islamischen Moscheegemeinden konnte sich am Mittwoch lediglich dazu durchringen, "jede öffentliche Schmähung, jeden Aufruf zu Hass und Gewalt" zu verurteilen - ohne direkten Bezug zu den Morddrohungen türkischer Nationalisten. Bundestags-Vizepräsident Johannes Singhammer forderte Ditib ganz direkt auf, sich von Erdogan zu distanzieren.
Ditib ist der deutsche Ableger der staatlichen türkischen Religionsbehörde "Diyanet", kontrolliert hierzulande rund 900 Moscheen und vertritt ultra-konservative Ansichten. Kritik an Erdogan ist aus dem Verband nicht zu erwarten, denn er gilt laut Grünen-Chef Özdemir als "der verlängerte Arm des türkischen Staates". Ditib-Vertreter halten den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich für einen Mythos.
Auch die Türkische Gemeinde zu Berlin kritisierte die Bundestagsentscheidung indirekt als "Effekthascherei und Profilierungsgehabe". Mit dieser Kritik steht sie innerhalb der Gemeinden ganz und gar nicht alleine da.
Deutsch-Türkisches Verhältnis auf dem Abweg
Verbandsfunktionär Sofuoglu hat in den vergangenen Jahren eine generelle Verschlechterung des deutsch-türkischen Verhältnisses beobachtet. Warum? Dies habe mit den Gezi-Protesten 2013 in Istanbul angefangen, über die in den deutschen Medien "aus der Sicht der Türkei parteiisch berichtet" wurde.
"Seither beobachten die beiden Länder die Entwicklungen genauer und kritisieren sich gegenseitig sehr schnell", so Sofuoglu. Mit der Armenier-Resolution hat sich die Stimmung noch einmal verschärft.
Sofuoglu und seine Kollegin Aysun Aydemir plädieren für "mehr Diplomatie". Die aufgeheizte Stimmung sei nur schwer zu verstehen. Auf beiden Seiten, wie sie betonen. "Unter dem Machtkampf leiden seit einiger Zeit die Deutschlandtürken, die wie ein Spielball hin und her geschoben werden."
60 Prozent der Deutschtürken für AKP
Die halten übrigens mehrheitlich zu Erdogan, nimmt man die Neuwahl zum türkischen Parlament im Dezember als Gradmesser. Damals stimmten knapp 60 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland für die islamisch-konservative Regierungspartei AKP - deutlich mehr als im Gesamtergebnis der Wahl (49,5 Prozent) und dreimal so viele wie in Grossbritannien (20 Prozent).
Von der Mehrheit der hier lebenden Landsleute kann der Präsident also Loyalität erwarten: Die Kritik des Verbandes der Türkischen Gemeinde ist da eher die Ausnahme.
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