Avantgarde auf dem internationalen Parkett, unentschlossen im eigenen Land: So präsentiert sich Deutschland, der einstige Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel. Noch immer hat die Politik den entscheidenden Schritt nicht getan, kritisieren Experten.

Mehr aktuelle News im Überblick

Wenn es um den Klimaschutz geht, neigt selbst die so nüchterne Angela Merkel zu biblischem Pathos. "Wir brauchen das Pariser Abkommen, um unsere Schöpfung zu bewahren", sagte die deutsche Kanzlerin im Sommer nach Donald Trumps Entscheidung, den Vertrag nicht zu ratifizieren.

Sie versicherte nochmals: Deutschland hält an seinen ambitionierten Klimazielen fest.

Doch Pastorentochter Merkel wird Matthäus 7,20 kennen: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen".

Und wenn man sich die Bilanz der Bemühungen genau anschaut, bleibt vom Image der "Klimakanzlerin" wenig übrig.

Deutschland, einst das Vorzeigeland im weltweiten Kampf um das 2-Grad-Ziel, droht bei der Klimakonferenz in Bonn eine "Blamage", wie die "Zeit" jüngst scharf kommentierte.

Was hat sich Deutschland vorgenommen?

Mitte des Jahrhunderts soll Deutschland treibhausgasneutral sein, also nicht mehr Klimagase ausstossen, als auch gebunden werden können.

Das würde eine Reduzierung der Emissionen von 80 bis 95 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 bedeuten.

Auf dem Weg nach 2050 liegen zwei Meilensteine: Bis 2030 will die Bundesrepublik den CO2-Ausstoss um 55 Prozent reduziert haben, bis 2020 sollen es schon 40 Prozent sein.

Wird Deutschland die Ziele erreichen?

Die erste Hürde 2020 wird Deutschland reissen. Das Umweltministerium hält derzeit eine Reduzierung von rund 32 Prozent gegenüber 1990 für machbar.

Für die 40 Prozent müssten ab sofort jährlich 160 Millionen Tonnen Emissionen vermieden werden, zuletzt schaffte Deutschland 40 Millionen Tonnen im Jahr.

"Wie Deutschland das ohne grosse Einschnitte schaffen will, ist mir schleierhaft", sagt Jan Burck von der Umweltorganisation "Germanwatch" im Gespräch mit unserer Redaktion.

Das Ziel wäre rechnerisch wohl zu erreichen, wenn die Regierung die zwanzig schmutzigsten Kohlekraftwerke sofort abschalten würde - das fordern nicht einmal die Grünen, die in den Sondierungsgesprächen zuletzt sogar ihre Forderung aufweichten, bis 2030 alle Kohlekraftwerke vom Netz zu nehmen.

Woran liegt das?

Die sogenannte "Dekarbonisierung" erfordert eine Transformation der gesamten Gesellschaft: Bei der Energie, im Verkehr, in der Landwirtschaft, im Wohnungsbau, bei den Lebensgewohnheiten.

"Das 2-Grad-Ziel ist sehr wichtig, aber so nach und nach wird allen klar, dass die konkrete Umsetzung kein Spaziergang wird", sagt Hermann Lotze-Campen vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung.

Denn es gibt viel zu verlieren: Arbeitsplätze in den Braunkohle-Gebieten in der Lausitz und NRW, viel Geld für die Kohle-Unternehmen, Profite in der Autoindustrie.

Dementsprechend hart werden Massnahmen für den Klimaschutz von den entsprechenden Lobbys bekämpft.

Exemplarisch steht NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, der die Auseinandersetzungen um die Klimapolitik bei den Sondierungen mit den drastischen Worten kommentierte: "Wir wollen schon ein Industrieland bleiben."

Dabei muss Emissionsreduzierung kein "Bedrohungsszenario" sein, sagt Hermann Lotze-Campen: "Es birgt auch Chancen: für gesündere Ernährung, saubere Luft, sauberes Wasser."

Der Forscher hält Massnahmen mit der "Brechstange" wie die sofortige Abschaltung von Schmutzmeilern oder eine feste Quote für E-Autos nicht für zielführend - er plädiert für eine Reform des EU-Emissionshandels, zum Beispiel durch einen Mindestpreis für CO2, der dann sukzessive ansteigt.

Eine der Ideen dahinter: Das schafft einen Planungsrahmen für die Wirtschaft, den es bisher nicht gibt.

Was muss im Hinblick auf 2030 und 2050 getan werden?

Es existiert schon eine Art Roadmap, der "Klimaschutzplan 2050". Allerdings wurde der erste Entwurf des Umweltministeriums von anderen Ministerien regelrecht gefleddert: Weder findet sich ein Verzicht auf fossile Heizsysteme, noch eine Kohle-Abgabe, noch eine Kampagne für weniger Fleischkonsum.

Umweltverbände fordern immer wieder ein Klimaschutzgesetz, das eine Rechtsverbindlichkeit schaffen soll. Bislang fehlen die Instrumente, um etwa Unternehmen auch wirklich zu sanktionieren.

Welche Massnahmen ergriffen werden müssen, ist umstritten. Nur in einem Punkt sind sich alle Experten einig: Ohne Ausstieg aus der Kohle wird es nicht gehen.

Sie erzeugt immer noch 40 Prozent unseres Stroms, ist aber für 80 Prozent der CO2-Emissionen im Energiesektor verantwortlich.

Trotzdem endete Sigmar Gabriels Versuch, 2015 eine Art Strafabgabe auf Braunkohlekraftwerke einzuführen, im Triumph für die Kohle-Lobby: Das Konzept wurde kassiert und die "Kohle-Reserve" eingeführt, die Kraftwerke auf Jahre hin gesichert.

Wo sieht es besonders schlecht aus?

Umweltexperte Jan Burck von "Germanwatch" hält vor allem den Verkehrsbereich für prekär. "Dort wurde im Vergleich zu 1990 keine einzige Tonne CO2 eingespart."

Tatsächlich sind die Emissionen trotz allen technologischen Fortschritts nicht gesunken - vor allem, weil das Verkehrsaufkommen massiv gestiegen ist. Ausserdem werden die Autos immer grösser, Stichwort SUVs.

Die EU hat gestern neue Reglungen für den CO2-Ausstoss von Autos festgelegt: Sie sollen bis 2030 um 30 Prozent gesenkt werden. Keine Rede vom Ende des Verbrennungsmotors, keine Quote für E-Autos, keine Sanktionen bei Verstössen: Nicht unbedingt ein Sieg für die Autolobby, die laut Medienberichten eifrig in Brüssel intervenierte, aber ein erfolgreiches Rückzugsgefecht.

Auch in Berlin gab es einen Sieg: Die Grünen verzichten in den Sondierungen auf ein Verbot für Verbrennungsmotoren. "Ich war immer dagegen, es darauf zu reduzieren", sagt Jan Burck. "Es wäre nicht nachhaltig, wenn einfach 50 Millionen E-Autos auf den Strassen fahren, es braucht eine komplette Verkehrswende."

Hinter Energie und Verkehr ist die Landwirtschaft drittgrösster Verursacher von Klimaabgasen in Deutschland, auch hier sieht der Trend nicht gut aus: Die aktuellen Werte sind so hoch wie im Jahr 2000. Das Ministerium weigert sich bislang, ein konkretes Einsparziel auszugeben.

Agrar-Experte Hermann Lotze-Campen sieht hier einen grossen Wandel für angebracht: "Es gibt technische Hebel, aber der viel grössere wäre die Umstellung auf eine gesündere Ernährung. Man könnte dafür, wie in Neuseeland angedacht, auch landwirtschaftliche Emissionen mit einem Preis versehen, dann würden tierische Lebensmittel teurer."

Ein Lackmustest für die Bereitschaft der Bevölkerung, denn der Kampf gegen den Klimawandel würde sich dann im Portemonnaie bemerkbar machen.

Welche positiven Ansätze gibt es?

Eine Umfrage von YouGov aus dem April ergab, dass 81 Prozent der Befragten der Klimaschutz wichtig sei.

Besonders der Ausbau der Erneuerbaren hat eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung.

Der Wille zum Wandel erreicht aber auch die Wirtschaft: Am Dienstag forderten mehr als 50 deutsche Unternehmen in einem Schreiben den "verlässlichen und sozialverträglichen Ausstiegspfad" aus der Kohle - darunter Riesen wie Siemens, SAP, die Telekom, Hermes und selbst Energiekonzerne wie Eon und EnBW, die allerdings aus dem Kohlegeschäft ausgestiegen sind.

Unter den Forderungen findet sich auch das Ende der Subventionen für fossile Energien.

Wie das Recherchebüro "Correctiv" errechnet hat, stehen jährlich 22 Milliarden Euro für Erneuerbare immer noch 46 Milliarden für fossile Energieträger gegenüber.

Die Unternehmen erhoffen sich auch einen Impuls für die Wirtschaft. Jan Burck von "Germanwatch", das den öffentlichen Brief ebenfalls unterschrieben hat, sieht darin eine grosse Chance und verweist auf die positiven Erfahrungen mit dem EEG. "Die technologischen Sprünge machen Hoffnung, das EEG hat erneuerbare Energie wirtschaftlich gemacht."

Das könne man auf andere Bereiche übertragen, die notwendigen Investitionen seien ohnehin bezahlbar: "Die Finanzwirtschaft sucht Anlagemöglichkeiten, das könnte man mit der Modernisierung der Wirtschaft verbinden."

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

"Deutschland war von 2005 bis 2012 einer der Vorreiter, seitdem reduzieren wir einfach keine Emissionen mehr", sagt Jan Burcke von "Germanwatch".

Die Umweltorganisation veröffentlicht jährlich ihren "Klimaschutzindex", in dem Deutschland aktuell nur auf Rang 22 liegt.

Klassenprimus ist Dänemark, das "Germanwatch" auf Rang vier listet - die ersten drei Ränge werden nicht vergeben, weil kein Land wirklich genug mache.

Burck meint, dass aktuell in Rest-Europa, in China und in den USA "viel mehr passiert" als in Deutschland.

Allerdings lohnt ein genauer Blick: Zwar zahlt Frankreich etwa Autofahrern 10.000 Euro Prämie, wenn sie ein E-Auto kaufen (in Deutschland sind es maximal 4000) - dafür wollen die Franzosen ihre Atomkraftwerke länger am Netz halten, um die Klimaziele nicht zu gefährden.

Die USA verstromen drastisch weniger Kohle, setzen dafür aber vermehrt auf das umstrittene Fracking von Gas.

Einen Königsweg zur Dekarbonisierung hat noch kein Land beschritten - Deutschland hat es aber, allen hehren Versicherungen zum Trotz, noch nicht einmal versucht.

Vorreiter ist Deutschland weiterhin im Zielsetzen. Hermann Lotze-Campen will das nicht kleinreden: "Es ist ein gutes Zeichen, wir sind da weiter als andere Länder. Aber im zweiten Schritt muss es um einen langfristigen Plan und verbindliche Rahmenbedingungen gehen. Das sind die Mühen der Ebene, wo es anfängt, weh zu tun."

Wenn Deutschland den zweiten Schritt nicht geht, fürchtet Lotze-Campen eine Art Trittbrettfahrer-Effekt: "Wenn ein Land mit einer so starken Wirtschaft, einer so guten Infrastruktur und dem politischen Willen es nicht schafft - warum sollten es andere dann versuchen?"

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.