Bei der Digitalisierung liegt Deutschland hinten – so kann man kurz und prägnant die Ergebnisse mehrerer Studien zum Thema zusammenfassen. Im Index der EU-Kommission für digitale Wirtschaft etwa belegt die Bundesrepublik Platz 11. Für die zukünftige Bundesregierung besteht also Handlungsbedarf. Doch die bisherigen Ergebnisse bei den Verhandlungen zur Jamaika-Koalition beurteilt ein Experte skeptisch.

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Der EU-Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI) stellt die Leistungen der 28 Mitgliedstaaten in unterschiedlichen digitalen Bereichen dar – von Internetanbindung und digitalen Kompetenzen bis zur Digitalisierung der Unternehmen und öffentlichen Dienste.

In der EU stehen demnach Dänemark, Finnland und Schweden an der Spitze, Deutschland folgt erst auf Platz 11 – noch hinter Estland und Österreich. Auch eine Untersuchung des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) sieht Deutschland nur im Mittelfeld. Die Studie untersucht die Innovationsstärke 35 wichtiger Volkswirtschaften und platziert Deutschland auf Rang 17 – hinter Irland, Taiwan und Frankreich.

Deutschland muss "massiv aufholen"

Wie die Länder der Europäischen Union sich den Herausforderungen der Digitalisierung stellen, ist in den Augen von Fachleuten entscheidend für die Entwicklung der EU-Wirtschaft. Andrus Ansip, Vizepräsident der Europäischen Kommission und für die Digitalisierung zuständig, mahnt, viele EU-Länder müssten "noch einen Gang zulegen." Um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können, solle die EU "eine weltweite Führungsrolle im digitalen Bereich" anstreben.

Was für die EU gilt, gilt erst recht für Deutschland: Die Bundesrepublik müsse beim Thema Digitalisierung "massiv aufholen", schreibt Tobias Kollmann in einem Beitrag für das "Manager-Magazin". Der Wirtschaftswissenschaftler hat einen Lehrstuhl an der Universität Duisburg-Essen und ist Vorsitzender des Beirats "Junge Digitale Wirtschaft" (BJDW) im Bundeswirtschaftsministerium.

Digitalministerium, digitales Grundgesetz, digitale Kompetenzen

Im Gespräch mit unserem Portal listet er auf, welche fünf Massnahmen die nächste Bundesregierung seiner Ansicht nach "schnellstmöglich" in Angriff nehmen sollte:

1. Als wichtigste Massnahme fordert Kollmann die Einrichtung eines Digitalministeriums: "Die Digitalisierung durchsetzt alle Lebensbereiche", sagt er. Sie sei "nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein gesellschaftliches Thema" und gehöre daher "gleichberechtigt an den Kabinettstisch."

2. Weil 80 Prozent der deutschen Arbeitnehmer Angst vor der Digitalisierung äussern, plädiert Kollmann vehement für die Förderung digitaler Kompetenzen. Digitalisierung müsse zu einem Bestandteil der schulischen Ausbildung, Programmieren als "zweite Fremdsprache" angeboten werden.

3. Die Politik müsse ein Wagniskapitalgesetz einführen: "Wichtig sind höhere Anreize für Investoren in Start-ups. Staatliche Unterstützung reicht da nicht, wir brauchen privates Kapital." Das erreiche man beispielsweise durch verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für Investoren.

4. Der Breitbandausbau ist Kollmann zufolge zwar "ein langweiliges Thema" – er sei trotzdem "die Basis für alles": Die "Gigabit-Gesellschaft" brauche schnellstmöglich Gigabit-Netze.

5. Die digitale Vernetzung schafft enorme Veränderungen im rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Kollmann fordert daher ein digitales Grundgesetz. Dieses müsse beispielsweise regeln, wem persönliche Daten auf digitalen Plattformen gehören: "Gehören sie dem Nutzer oder dem Betreiber? Kann der User sie bei einem Anbieterwechsel mitnehmen?" Ausserdem müsse dieses Grundgesetz die Netzneutralität festzurren: "Dieser Grundpfeiler des Internets muss beibehalten werden, jeder Teilnehmer muss gleichberechtigt behandelt werden!"

"Zu wenige digitale Köpfe"

Haben solche Forderungen Chancen in der neuen Bundesregierung? Der derzeitige Stand bei den Verhandlungen der Jamaika-Koalitionäre aus CDU, CSU, FDP und Grünen stimmt Kollmann skeptisch. Federführend im Thema sind die Freidemokraten: Sie haben das Thema Digitalisierung im Wahlkampf am deutlichsten positioniert, Parteichef Christian Lindner hat kürzlich aus den Koalitionsverhandlungen sogar einen Tweet zum Thema gepostet.

Die Förderung der "digitalen Infrastruktur" haben zwar alle Parteien im Programm - den Grünen liegt die digitale Bildung am Herzen, sowohl der CSU-Mann Alexander Dobrindt als auch die FDP haben ein Digital-Ministerium gefordert.

"Wir sind nicht schlechter – nur zu langsam"

Aber den "grossen Wurf" werde es wohl trotzdem nicht geben, fürchtet Tobias Kollmann. Negativ wirke sich aus, dass es "zu wenige digitale politische Köpfe" in den Parteien gebe. Ein weiterer Faktor sei die solide deutsche Wirtschaft: Viele Politiker sähen nicht ein, dass der "Exportweltmeister Deutschland" sich digital ins Zeug legen müsse – wenn die Wirtschaft brummt, ist der Veränderungsdruck gering.

Doch gerade da liegt, so Kollmann, der Denkfehler: "Die anderen bleiben ja nicht stehen – wir müssten eigentlich doppelt so schnell laufen wie die Konkurrenz." Geradezu "teuflisch" sei es, dass die "digitale Transformation" nahezu unbemerkt im Hintergrund ablaufe – "man erkennt das erst, wenn es zu spät ist."

Dabei ist der Wirtschaftswissenschaftler Kollmann von der Leistungsfähigkeit Deutschlands nach wie vor felsenfest überzeugt: "Wir sind nicht wirklich schlechter als die anderen – wir sind nur zu langsam in der Umsetzung!"

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