Mit ihrer Durchsetzungs-Initiative will die rechtskonservative SVP die Kriterien zur Ausschaffung straffälliger Ausländer bis ins letzte Detail regeln. Und das nicht als Gesetz, sondern in der Schweizerischen Verfassung. Einzelfallprüfung und richterlicher Ermessensspielraum, also das Prinzip der Verhältnismässigkeit, würden so ausgehebelt. Praktisch alle Juristen werten dies als Angriff nicht nur auf die Gewaltentrennung, sondern auch die Rechtsstaatlichkeit und ihren Berufsstand als Ganzes.

Mehr aktuelle News

Dreieinhalb Seiten: So lange ist der neue Artikel, den die SVP mit dieser Initiative in der Verfassung der Schweiz festschreiben will. Er ist zehn Mal länger als die übrigen Artikel im Schnitt sind.

Der Grund ist, dass der Artikel im Gegensatz zu dem, was sonst in einem Grundgesetz zu finden ist, kein allgemeines Prinzip festhält, sondern dass es um einen ganzen Katalog von Delikten geht, für die der Täter, die Täterin des Landes verwiesen werden sollen, wenn sie keinen Schweizer Pass besitzen. Das gilt auch für Leute, die in der Schweiz geboren sind, aber keinen Schweizer Pass haben.

Das ist eine Premiere: Das Strafgesetzbuch würde bei einer Annahme der Initiative direkt Eingang in die Bundesverfassung finden. Das Parlament hätte nichts zu sagen. Im Ständerat wurde dieses Manöver nicht geschätzt: Im Dezember letzten Jahres unterzeichneten die Mitglieder der kleinen Kammer (mit Ausnahme der fünf SVP-Abgeordneten und dem Unabhängigen Thomas Minder) eine Erklärung gegen die Umsetzungs-Initiative.

"Ausschaffungshandbuch"

Dieses völlig unübliche Aufbegehren des Ständerats erfolgte nur kurze Zeit vor einem ebenso so unüblichen Aufbegehren aus der Rechtswissenschaft: Mitte Januar unterzeichneten 160 Rechtsgelehrte aus dem ganzen Land ein Manifest, in dem zu einem "Nein" bei der Abstimmung vom 28. Februar aufgerufen wird. Unter dem Titel "Die Schweiz ist ein Rechtsstaat – Nein zur Durchsetzungsinitiative", kritisieren die Unterzeichner, die Initiative ziele darauf ab, "jegliches richterliche Ermessen" auszuschalten. Die Bundesverfassung dürfe nicht zu einem "Ausschaffungshandbuch abgewertet" werden.

"Unser Aufruf vereint einen grossen Teil der Professorenschaft aus den Bereichen öffentliches Recht, Verwaltungsrecht und internationales Recht aus der Schweiz" bestätigt Tobias Jaag, der mit seinem Kollegen Andreas Auer den Text lanciert hat.

"SVP will automatische, blinde Ausschaffungen"

Für Auer, der auch Gründer und Direktor des Studien- und Dokumentationszentrums für Direkte Demokratie (c2d) ist, zielt die Durchsetzungsinitiative "effektiv darauf ab, jeglichen Ermessensspielraum des Richters auszuschalten. Die SVP will automatische, blinde Ausschaffungen, die unabhängig vom Strafmass und dem einzelnen Fall des Betroffenen zu erfolgen haben. Hat jemand ein relativ schwerwiegendes Verbrechen begangen, oder zwei weniger schwere innerhalb von 10 Jahren, heisst es schlicht, raus!"

Konkret, wer in der Jugend einmal mit Cannabis-Pflanzen auf dem Balkon erwischt wurde und neun Jahre später bei einem Streit vor einer Kneipe einen Polizisten beleidigt, würde nach dem Willen der Initianten als derart gefährlich eingestuft, dass ein Richter automatisch seine oder ihre Ausschaffung verfügen müsste.

Der ehemalige Bundesrichter, Anwalt und Rechtsprofessor Martin Schubarth hatte schon die (2010 angenommene) Ausschaffungsinitiative als "einen Skandal" bezeichnet. Indem sie die Umsetzungs-Initiative als "Volkswillen" bezeichnet, "mogelt die SVP" seiner Ansicht nach. "Wenn Sie sagen, 'lasst uns die kriminellen Ausländer vertreiben', wird das Volk natürlich Ja sagen. Stellen Sie die Frage jedoch von Fall zu Fall, bin ich sicher, dass eine grosse Mehrheit dagegen wäre, diese oder jene Person auszuschaffen, nur weil sie keinen Schweizer Pass hat."

Für diese Möglichkeit, die Dossiers von Fall zu Fall zu betrachten, macht sich auch Andreas Auer stark. Und die Rolle stehe dem Richter zu. "Das Volk kann nicht Richter sein. Das Volk stellt die Regeln auf, aber die Richter sind es, welche die Regeln anwenden", argumentiert der Professor. Richter, zu deren Pflicht es insbesondere gehöre, sich an ein Prinzip zu halten, das in der Bundesverfassung zwei Mal (Art. 5 und 36) festgeschrieben sei und das verlange, dass die Handlung des Staates in einem "angemessenen Verhältnis zum Ziel" stehe.

Das Prinzip der Verhältnismässigkeit

Bei der SVP sieht der Rechtsprofessor und neu gewählte Nationalrat Hans-Ueli Vogt die Dinge natürlich nicht gleich. Seiner Ansicht nach muss das "System nach Normen funktionieren, welche das Prinzip der Verhältnismässigkeit allgemein konkretisieren. Dieses Prinzip spielt nicht bei jedem Entscheid jedes Gerichts in jedem einzelnen Fall eine Rolle." Als Beispiel verweist er auf vorsätzliche Tötung, ein Delikt, bei dem das Strafgesetzbuch dem Richter im Prinzip verbietet, eine Haftstrafe von weniger als zehn Jahren zu verfügen.

"Es gibt auch den Fall des Automobilisten, der mit 140km/h auf der Autobahn geblitzt wird. Auch wenn er alleine war, wenn er niemanden in Gefahr gebracht hat und es als unverhältnismässig betrachtet, so muss er dennoch seine Busse zahlen. Wir haben also bereits obligatorische Normen, die den Handelsspielraum der Gerichte einschränken. Und das ist gut, denn man soll das Urteil nicht allein der Subjektivität des Richters überlassen", argumentiert Hans-Ueli Vogt.

Das ändert nichts daran, dass in der Schweiz, wie in jedem Rechtsstaat, das Prinzip der Gewaltentrennung gilt. Die Justiz ist hier also als unabhängig bekannt. Wie würden die Richter und Richterinnen den Spagat zwischen der automatischen Ausschaffung und dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit schaffen? "Sie werden vor unerträglichen Gewissenskonflikten stehen", sagt Martin Schubarth voraus.

"Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Richter entscheiden wird, trotz allem seine angeborene Pflicht weiterhin zu erfüllen, die besagt, dass jeder Fall im Detail zu prüfen ist, und Entscheide unter Berücksichtigung aller Umstände zu fällen sind, vor allem der familiären, beruflichen und persönlichen Situation der betroffenen Person", hofft Andreas Auer.

Doch für Hans-Ueli Vogt sind die Dinge klar: "Grundsätzlich muss man einräumen, dass eine jüngere und konkretere Version Vorrang hat gegenüber einem allgemeinen Prinzip." Oder anders gesagt: Die Initiative wird Vorrang haben vor der in der Verfassung festgeschriebenen Verhältnismässigkeit, auch wenn der SVP-Jurist persönlich gewisse Vorbehalte gegenüber der Ausweisung von Secondos hat, den Ausländern der zweiten Generation, die in der Schweiz geboren sind.

Diese Idee bringt Martin Schubarth auf die Palme. "Wenn diese Initiative angenommen wird, würde das bedeuten, dass die Schweiz als Land der Humanität nicht mehr existiert", donnert der ehemalige Bundesrichter.

Und führt einen Fall an, mit dem er zu tun gehabt hat. Es war um einen in der Schweiz geborenen, völlig integrierten Österreicher gegangen, der seine Frau umgebracht hatte. "Wir hatten uns damals geweigert, ihn des Landes zu verweisen, auch wenn uns das Strafgesetzbuch diese Möglichkeit gegeben hatte. Denn leider gibt es jedes Jahr in der Schweiz auch mehrere Schweizer, die ihre Frauen umbringen, und niemand findet es unerträglich, dass diese Männer in der Schweiz bleiben. Geht es hingegen um Kriminaltouristen, die keine Verbindung zum Land haben, und die nur hierher kommen, um ein Verbrechen zu begehen, bin ich damit einverstanden, dass man sehr hart ist."

Rekurs-Kaskaden

Letzten Endes schätzt Andreas Auer, dass es "geschummelt" sei, wenn man die Diskussion in der "Wahl zwischen einer harten Haltung gegenüber ausländischen Kriminellen und einer lockereren Haltung" zusammenfasse. "Vor fünf Jahren haben wir für eine harte Haltung gestimmt. Und schon heute verfolgen die Gerichte gegenüber Ausländern eine sehr harte Linie. Die Frage, die sich stellt, ist jene des Respekts für gewisse elementare Prinzipien unseres Rechtsstaates."

Prinzipien, die das Manifest der rund 160 Professoren und Professoren auflistet, namentlich Verhältnismässigkeit, Gewaltentrennung, Geltung der Grundrechte und Respekt für die Europäische Menschenrechts-Konvention und das Freizügigkeits-Abkommen mit der Europäischen Union.

"Falls diese Initiative angenommen wird, kann man mit sehr vielen Rekursen rechnen, zuerst auf kantonaler Ebene, dann auf Ebene des Bundesgerichts", warnt der Professor. "Und, würde ein Richter, blind, wie es die Verfassung verlangt, eine Ausschaffung anordnen, würde der Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergezogen, und dann würde die Schweiz garantiert verurteilt."
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)   © swissinfo.ch

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.