- Fackelmarsch vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD), Mordpläne gegen den Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) und hunderte Verfahren gegen Demonstranten.
- Die Gegner der Corona-Politik scheinen im Osten Deutschlands radikaler zu sein als anderswo.
- Stimmt der Eindruck und woran liegt das? Zwei Politikwissenschaftler geben Antworten.
Gerade noch war Sachsen wegen seiner schwindelerregenden Inzidenzen von über 2000 in den Medien, schon gehen die nächsten Bilder durch ganz Deutschland: In mehreren Städten in Sachsen und Thüringen haben am vergangenen Montag Hunderte Menschen gegen die Corona-Politik demonstriert – trotz Beschränkungen des Versammlungsrechts.
Die Polizei stoppte mehrere Aufzüge und leitete Verfahren gegen etliche Teilnehmer ein. In den sozialen Medien war zuvor zu sogenannten "Spaziergängen gegen die Corona-Politik" in Städten wie Chemnitz, Freiberg, Zwönitz, Hainichen, Erfurt und Jena aufgerufen worden.
Mordpläne gegen Politiker
Für Entsetzen sorgte auch der Fackelmarsch, den Gegner der Corona-Politik vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) veranstalteten, und die Morddrohungen, die in Telegram-Kanälen gegen Ministerpräsident
Der Eindruck, der sich aufdrängt: Die Gegner der Corona-Massnahmen sind im Osten besonders radikal. "Die Querdenker sind allgemein heterogen, der rechtsextreme Einfluss auf die Protestbewegungen ist in Ostdeutschland aber deutlich grösser", sagt Politikwissenschaftler Josef Holnburger.
AfD mischt mit
Besonders die politische Organisation der "Freien Sachsen" wirke stark auf die Bewegungen ein, organisiere Demonstrationen und Fackelmärsche. "Sie wollen als übergeordneter Bündnispartner verschiedener rechter Organisationen dienen", erläutert Holnburger die Hintergründe.
Im Osten, wo die AfD besonders stark ist, seien in den Querdenker-Gruppierungen auch häufig AfD-Funktionäre vertreten. "Sie treiben den Skeptizismus gegenüber der Impfung weiter voran und benutzen sogenannte Dog Whistles", sagt der Experte. Mit bestimmten Begriffen, etwa dem "Great Reset", lockten sie Menschen an, die an Verschwörungserzählungen glauben, und präsentierten sich als Verbündete.
Im Osten besonders sichtbar
Auch Politikwissenschaftler Michael Lühmann gibt zu: "Es ist auffällig, dass die Querdenker-Bewegung ursprünglich in Süddeutschland begann, dort eher wieder abebbt und in Teilen des Ostens, trotz der dramatischen Lage der Pandemie dort, so stark eskaliert".
Rechtsradikale Gruppierungen nutzten die Proteste in ganz Deutschland; im Osten, insbesondere in Sachsen sei das gerade aber besonders sichtbar. "Rechtsextreme und menschenfeindliche Einstellungen sind hier viel stärker ausgeprägt", erinnert er.
Polizei zu locker gewesen
Die Experten sehen noch weitere Gründe, warum die Gegner der Corona-Politik vor allem in Sachsen und Thüringen so radikal sind: "Die Corona-Regeln wurden von der Polizei im Osten nicht besonders stark durchgesetzt. Die Demonstranten haben das als Signal verstanden, die Polizei stünde auf ihrer Seite, weil sie nicht vehement gegen die Proteste vorging", analysiert Holnburger.
Lühmann sagt: "Insbesondere die sächsische Polizei hat am Anfang zu viel gewähren lassen, und auch die sächsische Politik hat lange relativiert." Der sächsische Innenminister Roland Wöller (CDU) habe zu lange Verständnis für die Corona-Proteste geäussert, "wo es kein Verständnis mehr geben darf", so der Experte.
Querdenker ticken im Osten anders
Auch eine Studie von Soziologen der Universität Basel war erst jüngst zu dem Schluss gekommen: Querdenker im Südwesten ticken anders als im Osten. Die Ergebnisse aus einer Befragung von 1150 Telegram-Gruppenmitgliedern: Der Anteil von AfD-Wählern ist im ostdeutschen Teil der Bewegung viel höher als in Baden-Württemberg.
Dort haben viele Protestler ihre Wurzeln wiederum ursprünglich im linksalternativen Milieu, der Anteil an ehemaligen Grünen- und Linke-Wählern ist im Südwesten doppelt so hoch. In Sachsen trügen die Proteste auch deutlich weniger esoterische Züge, so die Studienautoren.
Gefährliches Vorbild für andere Länder
"Das, was im Osten aber scheinbar funktioniert – etwa Montagsspaziergänge oder die Bedrohung von einzelnen Politikern –, wird in anderen Bundesländern als Vorbild gesehen", meint Experte Holnburger. Es gäbe auch bereits Ableger wie "Freie Pfälzer" oder "Freie Schwaben".
"Zwar sind diese Gruppen noch nicht besonders gross, aber der Vorbild-Prozess ist besonders problematisch", so der Wissenschaftler. Gleichzeitig warnen die Experten aber auch vor der pauschalen Beschreibung "des Ostens". "Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen AfD-Wählern, Impfgegnern und Corona-Protesten. Im Süden des Ostens ist das Thema jedoch viel umfänglicher und radikaler fundiert als in anderen Teilen", sagt Lühmann.
Mehr Härte des Staates gefordert
In Reaktion auf die Proteste forderte der Chef des thüringischen Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, im Gespräch mit dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland" (RND) mehr Härte des Staates.
Es gehe den Demonstranten nicht mehr um Versammlungsfreiheit, sondern "nur noch darum, einzuschüchtern und Angst zu verbreiten. Diese Menschen brauchen keine Kommunikation, sondern eine klare Ansage", so Kramer. Holnburger schliesst sich an: "Es braucht endlich eine Politik der Konsequenz, die hat in den letzten Monaten gefehlt". Zulange habe es keine Konsequenzen gegeben, etwa wenn Mordaufrufe in Telegram-Gruppen gepostet worden seien.
Aufarbeitung durch die Politik
Die Personen, die durch die Szene bedroht seien, müssten nun besser geschützt werden. "Wir brauchen ausserdem bessere Zahlen darüber, wie viele Übergriffe und Massnahmenverstösse es tatsächlich gab und gibt", fordert der Experte. Die Politik müsse ehrlich aufarbeiten, was in der Pandemiepolitik schiefgelaufen sei. "Erst zu versprechen, eine Impfpflicht komme auf keinen Fall, und sie nun doch einzuführen, hat zu einem noch stärkeren Vertrauensverlust geführt", erinnert Holnburger.
Lühmann ist sich allerdings sicher: "Die rechtsextremen Strukturen in Sachsen suchen sich ihre Wege – ob mit Geflüchteten oder der Pandemiepolitik als Aufhänger." Das Potenzial, den Staat unter einem Vorwand anzugreifen, steige. "Die Impfpflicht könnte für eine weitere Radikalisierung nur vorgeschoben werden", schätzt er.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Josef Holnburger
- Interview mit Michael Lühmann
- Nachtwey, O., Schäfer, R., Frei, N. (2021): Politische Soziologie der Corona-Proteste. Universität Basel. 2021. Abrufbar unter: https://osf.io/preprints/socarxiv/zyp3f/
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.