Der Bundestag stimmt für eine verschärfte Migrationspolitik. Stimmen der AfD spielten dabei mutmasslich eine Rolle. Die Abgeordneten reagieren mit Schuldzuweisungen - AfD-Politiker Baumann spricht von einem historischen Moment.

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Nach dem Bundestags-Votum für mehr Zurückweisungen an den Grenzen ist es im Plenum zum Eklat gekommen. Für Empörung sorgte, dass die Mehrheit für den entsprechenden Antrag der CDU/CSU mutmasslich mit Stimmen der AfD zustande gekommen war.

Scholz: "Schlechtes Zeichen" für Parlament und Land

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich betroffen über den mit Hilfe der AfD verabschiedeten Unionsantrag zur Migrationspolitik gezeigt. Er werde "noch eine Zeit brauchen, zu verarbeiten, was wir heute gemeinsam erlebt haben", schrieb Scholz am Mittwochabend im Online-Dienst X. "Das ist ein schlechtes Zeichen. Für das Parlament. Und auch für unser Land."

"Das erste Mal ist im Deutschen Bundestag ein Antrag mit einer Mehrheit beschlossen worden, die auch von der AfD getragen wurde", fuhr der SPD-Kanzlerkandidat auf seinem als Bundestagsabgeordneter angelegten Konto bei X fort. "Dieser Tag wird sicherlich von manchen als historisch beschrieben werden."

Mützenich: Wir sind empört

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich wirft dem Unions-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz nach der Abstimmung zur Migrationspolitik eine unverantwortliche Leichtfertigkeit vor. Dieser Tag werde sich ins Gedächtnis der Demokratie und wohl auch in die Geschichte des Landes eingraben. "Unsere Fraktion, die SPD-Bundestagsfraktion, ist empört", sagte Mützenich und nannte den wohl mit Stimmen der AfD beschlossenen Antrag der Union leichtfertig und wahrheitswidrig.

Bei der Bundestagswahl am 23. Februar entscheide sich, ob es sich nur um einen leichtfertigen, unverantwortlichen Fehler handele, "oder ob die Rutschbahn noch weitergeht", betonte Mützenich. Zu seinem Statement hatte sich die gesamte SPD-Fraktion im Bundestag hinter ihrem Vorsitzenden versammelt.

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Faeser nennt Merz "geschichtsvergessen"

Bundesinnenministerin Nancy Faeser äusserte sich ähnlich. "CDU und CSU haben heute erstmals im Bund die demokratische Mitte verlassen", sagte die SPD-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur. "Die Union hat gemeinsame Sache mit den Rechtspopulisten der AfD gemacht, um rechtswidrige Beschlüsse zu fassen", empörte sich die Ministerin. Dies sei sowohl ein nationaler Irrweg als auch unverantwortlich und "geschichtsvergessen".

Das Agieren der Union und ihres Vorsitzenden, Friedrich Merz (CDU), bedeute den endgültigen Bruch mit der Politik der Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und des Ex-Kanzlers Helmut Kohl (CDU), erklärte Faeser. "Herr Merz weiss nicht, was er angerichtet hat", sagte die Innenministerin. So wie er könne nur jemand handeln, der noch nie Verantwortung getragen habe.

Grünen-Politikerin Hasselmann entsetzt

Auch die Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Hasselmann griff Merz nach Bekanntgabe der Abstimmungsergebnisse scharf an. "Sie haben das zu verantworten", sagte sie. "Heute sind zum ersten Mal Mehrheiten gesucht und billigend in Kauf genommen worden jenseits der demokratischen Mitte." Sie betonte, dass die Union den Grünen vorab keine Verhandlungen angeboten habe.

Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, sprach von einem historischen Moment. "Herr Merz, Sie haben geholfen, den hervorzubringen", rief Baumann dem CDU-Chef zu. "Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche. Jetzt beginnt etwas Neues. Und das führen wir an, das führen die neuen Kräfte an, das sind die Kräfte von der AfD."

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Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender, nach der Abstimmung. Die Union hatte bei der Abstimmung 348 Stimmen für ihren Antrag bekommen, CDU und CSU haben aber nur 196 Sitze im Parlament © dpa / Kay Nietfeld/dpa

Merz äussert Bedauern - FDP verteidigt Entscheidung

Unionsfraktionschef Friedrich Merz bot SPD und Grünen nach der mutmasslich mit AfD-Stimmen zustande gekommenen Mehrheit für Verschärfungen im Migrationsrecht neue Verhandlungen an. Er suche "keine anderen Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte unseres Parlaments", sagte der Unionskanzlerkandidat. "Wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedaure ich das."

Die FDP-Abgeordnete Judith Skudelny verteidigte die Haltung ihrer Fraktion. "Meine Fraktion wird Ihre Meinung zu Anträgen einer demokratischen Partei wie der CDU/CSU nicht von radikalen Parteien in diesem Haus abhängig machen", sagte Skudelny. "Demokratie heisst, eine freie, eigene, souveräne Entscheidung treffen zu können." Sie betonte, dass es ein Gesprächsangebot gegeben habe und verwies dabei auf den gescheiterten Migrationsgipfel von den Ampel-Parteien und der Union im vergangenen Jahr.

Schuster: AfD mit Abstimmung Bühne bereitet

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hat sich enttäuscht über die Zustimmung des Bundestags zum Antrag der Union für eine Verschärfung der Migrationspolitik gezeigt. "Klar ist, dass im Interesse unserer Gesellschaft, ein Wandel im Umgang mit illegaler Migration in Deutschland notwendig ist. Ich finde es enttäuschend, dass die demokratischen politischen Kräfte in unserem Land – auch in Zeiten des Wahlkampfs – nicht in der Lage waren, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen und damit der AfD diese Bühne bereitet haben", sagte er nach der Abstimmung.

Indem die AfD wiederholt diese Rolle erhalte "lassen wir zu, dass Rechtspopulismus und Rechtsextremismus unsere gesellschaftlichen Debatten bestimmen."

Unionsantrag zur Migration angenommen

Der Bundestag hatte sich zuvor für mehr Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen ausgesprochen. Ein entsprechender Antrag der CDU/CSU-Fraktion fand eine Mehrheit, wie die Sitzungsleiterin Katrin Göring-Eckardt mitteilte. Höchstwahrscheinlich war dies nur mit den Stimmen der AfD möglich. In der Debatte hatten sich Abgeordnete von Union, FDP und AfD sowie einige fraktionslose Abgeordnete für den Vorschlag ausgesprochen. Das BSW kündigte an, man werde sich enthalten. SPD, Grüne und Linke positionierten sich dagegen. Der erste Antrag für mehr Zurückweisungen erhielt 348 Ja-Stimmen, 345 Nein-Stimmen, zehn Abgeordnete enthielten sich.

Ein zweiter Antrag der Union mit umfassenden Reformvorschlägen für eine restriktive Migrationspolitik und zusätzliche Befugnisse der Sicherheitsbehörden wurde demnach mehrheitlich abgelehnt. Beide Anträge sind rechtlich nicht bindend. Der zweite Antrag bekam 190 Ja-Stimmen, 509 Nein-Stimmen und drei Enthaltungen. In der Debatte hatten sich Abgeordnete von SPD, Grünen, Linke, BSW, AfD und FDP gegen den Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion ausgesprochen.

Was im ersten Antrag steht

In dem ersten Antrag heisst es: "Es gilt ein faktisches Einreiseverbot für Personen, die keine gültigen Einreisedokumente besitzen und die nicht unter die europäische Freizügigkeit fallen." Dies soll ausdrücklich auch für Menschen gelten, die in Deutschland einen Asylantrag stellen wollen. Wer vollziehbar ausreisepflichtig ist, soll in Haft genommen werden. Vorgesehen ist zudem eine grössere Rolle der Bundespolizei bei Rückführungen.

Ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder sollen unbefristet so lange in Arrest kommen, bis sie freiwillig ausreisen oder die Abschiebung vollzogen werden kann. Gefordert werden auch dauerhafte Grenzkontrollen. Allerdings gibt es seit einigen Monaten auf Anordnung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ohnehin stationäre Kontrollen an allen deutschen Landgrenzen.

Was im zweiten Antrag steht

In dem Unionsantrag heisst es: "Wenn Menschen, die bei uns zu Gast sind und Hilfe in Anspruch nehmen, straffällig werden oder Konflikte auf deutschem Boden austragen, muss ihr Aufenthalt beendet werden." Die Befugnisse zur elektronischen Gesichtserkennung sollen ausgeweitet werden auch an Bahnhöfen und Flughäfen. Telekommunikationsunternehmen sollen zur Speicherung von IP-Adressen verpflichtet werden, mit denen sich Geräte im Internet identifizieren lassen. Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, häufig Bürgerkriegsflüchtlinge, sowie alle freiwilligen Aufnahmeprogramme sollen gestoppt werden. Die Einsatzkräfte an den deutschen Grenzen sollen personell verstärkt werden.

Die FDP hatte bereits im Vorfeld erklärt, sie werde dem Antrag wegen der darin enthaltenen Vorschläge zur Vorratsdatenspeicherung nicht zustimmen. Bei der Vorratsdatenspeicherung würden Anbieter gesetzlich verpflichtet, die Telefon- und Internetverbindungsdaten der Nutzer zu sichern, sodass Ermittler später darauf zugreifen können.

Empörung bei SPD und Grünen

Die CDU/CSU hatte mit ihrer Initiative Empörung bei SPD und Grünen ausgelöst, weil absehbar war, dass die Pläne nur mit Stimmen der AfD eine Mehrheit finden könnten. Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) hatte über die Vorhaben gesagt: "Und wir werden sie einbringen, unabhängig davon, wer ihnen zustimmt."

Unmittelbarer Auslöser der Unions-Vorstösse war eine Bluttat in Aschaffenburg. Ein offenbar psychisch kranker Mann aus Afghanistan hat am Mittwoch vergangener Woche einen zweijährigen Jungen mit marokkanischen Wurzeln aus einer Kindergartengruppe mit einem Messer getötet. Ein 41 Jahre alter Familienvater, der sich zwischen Angreifer und Kinder stellte, starb ebenfalls. Weitere Menschen wurden schwer verletzt, darunter ein zwei Jahre altes Mädchen syrischer Abstammung. Der 28 Jahre alte Angreifer war ausreisepflichtig, er befindet sich in einer psychiatrischen Einrichtung. Der Tat ging eine Reihe anderer Attacken voraus, bei denen ebenfalls Ausländer unter Tatverdacht stehen.

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fliessen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäss dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Scholz: "Ein Bundeskanzler darf kein Zocker sein"

Scholz sprach in seiner Regierungserklärung vor der Abstimmung über die Unionsanträge Merz die Regierungsfähigkeit ab, weil er Pläne vorlege, die dem Grundgesetz und dem EU-Recht widersprächen. "Es gibt Grenzen, die darf man als Staatsmann nicht überschreiten", sagte er. "Politik in unserem Land ist doch kein Pokerspiel. Der Zusammenhalt Europas ist kein Spieleinsatz. Und ein deutscher Bundeskanzler darf kein Zocker sein. Denn er entscheidet im schlimmsten Fall über Krieg oder Frieden."

Merz wies den Vorwurf der Rechtswidrigkeit klar zurück. Der EU-Vertragsartikel 72 eröffne dem nationalen Recht den Vorrang bei einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sagte er. "Wie viele Kinder müssen noch Opfer solcher Gewalttaten werden, bevor Sie auch der Meinung sind, dass es sich hier um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung handelt?", fragte er.

Zudem sei im Artikel 16a des Grundgesetzes ausdrücklich geregelt, dass sich nicht auf das Grundrecht auf Asyl berufen könne, wer aus einem EU-Mitgliedstaat oder einem Land einreise, in dem die Europäische Menschenrechtskonvention gelte.

Scholz: Merz hat Grundkonsens der Demokraten aufgekündigt

Noch schärfer wurde der Schlagabtausch beim Thema AfD. Die Union toleriere die Unterstützung derer, "die unsere Demokratie bekämpfen, die unser vereintes Europa verachten, die das Klima in unserem Land seit Jahren immer weiter vergiften", sagte Scholz. Dies sei ein "unverzeihlicher Fehler".

Seit Gründung der Bundesrepublik vor über 75 Jahren habe es immer einen klaren Konsens aller Demokraten gegeben, mit extremen Rechten nicht gemeinsame Sache zu machen, sagte Scholz. "Sie haben diesen Grundkonsens unserer Republik im Affekt aufgekündigt", warf der Kanzler seinem Herausforderer vor.

Merz verwies darauf, dass alle Versuche, mit SPD und Grünen zu einem Konsens in der Migrationspolitik zu kommen, in den letzten drei Jahren gescheitert seien. Nun wolle er "aufrechten Ganges das tun, was unabweisbar in der Sache notwendig ist". Dafür nehme er auch Bilder von jubelnden AfD-Abgeordneten in Kauf, auch wenn diese "unerträglich" sein werden.

Gedenkminute zum Auftakt der Debatte – Steinmeier mahnt

Vor Beginn der Debatte gedachten die Abgeordneten der Opfer von Aschaffenburg. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas mahnte eine faire Diskussion an. Zuvor hatte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Gedenkstunde für die Millionen Opfer des Holocaust unter der Nazi-Herrschaft mahnende Worte gefunden.

Er warnte vor Rückschritten der deutschen Demokratie - allerdings ohne auf die aktuelle Debatte über eine Zusammenarbeit mit der AfD einzugehen. "Gehen wir nicht zurück in eine dunkle Zeit. Wir wissen es besser. Machen wir es besser", sagte er und forderte: "Nehmt die Feinde der Demokratie ernst."

Unmittelbar vor der Abstimmung stellten sich die beiden grossen Kirchen mit ungewöhnlich scharfen Worten gegen den Unions-Kurs. Die Fraktionen hätten sich mit der Auflösung der Ampel-Koalition verständigt, keine Abstimmungen herbeizuführen, in der die Stimmen der AfD ausschlaggebend seien, heisst es in einer gemeinsamen Erklärung der Berliner Vertreter der katholischen Bischöfe und des Rats der Evangelischen Kirche. "Wir befürchten, dass die deutsche Demokratie massiven Schaden nimmt, wenn dieses politische Versprechen aufgegeben wird."

Umfrage: Mehrheit gegen komplette Ausgrenzung der AfD

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov gibt es in der Bevölkerung durchaus grössere Sympathien für ein Öffnen der Brandmauer. Danach haben 22 Prozent der Befragten mit einer Kooperation in einzelnen Sachfragen kein Problem.

Weitere 30 Prozent meinen, dass darüber hinaus sogar Regierungskoalitionen mit der AfD möglich sein sollten. Eine Minderheit von etwa 42 Prozent sprach sich in der Befragung grundsätzlich gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD aus. (dpa/bearbeitet von tas)

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