- Wissenschaftler Carlos Nobre gehört zu den engsten Beratern des neu gewählten Präsidenten Lula in Brasilien.
- Die Wirtschaft in der Amazonasregion soll sich zu einer Wirtschaft des "stehenden Waldes" entwickeln.
- Zwingende Voraussetzung für das Überleben des Ökosystems ist es, keinen Wald mehr abzuholzen, erklärt Nobre im Interview.
Herr Nobre, was wäre eigentlich passiert, wenn Bolsonaro für vier weitere Jahre gewählt worden wäre?
Carlos Nobre: Zum Glück wurde er nicht wiedergewählt! Vier weitere Jahre hätten wahrscheinlich den ganzen brasilianischen Regenwald zerstört und es hätte einen massiven Verlust an indigenen Völkern gegeben. Bolsonaro hatte noch kurz vor der Wahl in einem Video verbreitet, dass die Entwicklung einen sehr viel höheren Wert habe als der Wald. Er sagte: Holzt den Wald ab. Das war seine Botschaft. Er war 28 Jahre Abgeordneter und er hat genau diesen Standpunkt immer vertreten. In Rio de Janeiro, woher er kommt, wurden seine Söhne immer schon mit der organisierten Kriminalität in Verbindung gebracht. In der Peripherie der Stadt haben sie den Clan unterstützt. Wäre er wiedergewählt worden, wäre das die Botschaft an die organisierte Kriminalität gewesen weiterzumachen. Es wäre schrecklich gewesen. Mehr und mehr Wald wäre zerstört worden. Schätzungen zufolge wäre die Zerstörung schnell auf 20 bis 25 Prozent angewachsen. Auch der illegale Bergbau hätte weiter zugenommen. Er hat in seiner Amtszeit auf eine schädliche Art und Weise versucht, die Verfassung zu ändern, um Goldabbau in indigenen Gebieten zu erlauben. Das ist in unserer Verfassung von 1988 verboten. In den verbleibenden zwei Monaten wird er wie verrückt versuchen, noch Gesetze zu ändern, wobei ich hoffe, dass der Kongress nicht zustimmen wird.
Sie sind einer der beiden Wissenschaftler, die den Begriff Kipppunkt im Zusammenhang mit der Amazonasregion prägten, der heute fast täglich benutzt wird. Wie nah hat uns Bolsonaro an diesen Kipppunkt gebracht?
Leider sind wir sehr nah dran, wir stehen praktisch an der Schwelle, und einige Wissenschaftler glauben sogar, dass wir in einem Teil des Amazonas der Kipppunkt bereits überschritten haben.
Experte Carlos Nobre erklärt: Häufigkeit von Dürren hat sich im Amazonas erhöht
Können Sie das etwas genauer erläutern?
Wenn wir uns diese riesige Gegend im südlichen Amazonas anschauen, vom Atlantik bis Bolivien, das sind mehr als zwei Millionen Quadratkilometer. Diese Gegend ist am stärksten von der Entwaldung betroffen. Es gibt dadurch eine Synergie. Globale Erwärmung begünstigt Klimaextreme und eine veränderte Landnutzung. Das heisst: Es gibt eine lokale Triebkraft in Verbindung mit einer globalen, der Klimaerwärmung. Die globale Erwärmung sorgt für mehr Klimaextreme. Bei euch in Deutschland gab es 2021 das Hochwasser (Anm. d. Red.: Das Hochwasser an der Ahr). Dazu Rekorddürren wie dieses Jahr in Europa und China oder Rekordhitzewellen in Kanada und Alaska.
Im Amazonas hat sich die Häufigkeit von Dürren erhöht. In der Vergangenheit hat es eine Dürre alle 20 Jahre gegeben, heute gibt es zwei pro Dekade. Diese erhöhen die Sterberate der Bäume und damit die Kohlendioxidemission der Wälder. Zugleich führt die Entwaldung zu Walddegradierung. Wald hat eine Fähigkeit Wasser zu binden, dabei ist er sehr effizient. Wird der Wald entfernt, wird er zu einer Gras-/Steppenlandschaft. Diese ist, was die Wasserbindung betrifft, sehr ineffizient. Was wir also dort in den letzten 40 Jahren sehen und was ein untrügerisches Zeichen dafür ist, dass wir nah am Kippunkt sind, ist der Fakt, dass sich die Trockenzeit um fünf bis sechs Wochen verlängert hat.
Kann man uns Europäern das noch ein wenig plastischer erklären?
Ein Vergleich, der zeigt, wie besorgniserregend das ist: Das arktische Meer hat bereits seine Temperatur um drei bis vier Grad erhöht. Das sorgt für das Schmelzen des Eises. Der damit verbundene Temperaturanstieg hat direkte Auswirkungen auf den Jetstream in der Atmosphäre. Das führt zu zwei Extremen: Zum einen zu strengerer Kälte im Winter. Zum anderen zu Hitzewellen wie in diesem Sommer. Das entspricht etwa der Verlängerung der Trockenzeit im Amazonasgebiet.
Die Trockenzeit dauert normalerweise drei bis vier Monate und es gab immer noch zwischendurch genügend Regen. Nun sehen wir die Trockenzeiten fünf bis sechs Wochen länger, mit 20 bis 30 Prozent weniger Regen, einem Temperaturanstieg von drei Grad und einem enormen Anstieg der Sterblichkeit der Bäume. Das alles sind übrigens Beobachtungen, keine Vorhersagen für die Zukunft!
Die wachsende Baumsterblichkeit sagt uns eindeutig, dass der Wald dort nahe am Kipppunkt ist. Die Sterblichkeit markiert den Übergang vom geschlossenen Wald zu einem Savannenökosystem. Den Beginn dieses Übergangs sehen wir bereits und wenn die globale Erwärmung fortschreitet, nimmt die Trockenheit weiter zu. Manche Vorhersagen gehen davon aus, dass der vollständige Übergang in den nächsten 30 bis 50 Jahren stattfinden wird. Wenn die Degradierung fortschreitet, betrifft das nicht nur den südlichen Teil der Amazonasregion. Sicherlich wären mindestens 50 Prozent des Amazonaswaldes betroffen.
Das sind ziemlich schlechte Nachrichten.
Der Wald wurde zur Kohlendioxidquelle. Ich spreche da übrigens nicht einmal von der Emission von Treibhausgasen durch Entwaldung, Feuer oder Degradation. Das Phänomen ist permanent zu beobachten. Auch in der Feuchtzeit verliert der Wald mehr Kohlendioxid, als er aus der Atmosphäre durch Photosynthese binden kann. Als Wissenschaftler glaube ich aber, dass es möglich ist dies zu vermeiden. Das ist zwar sehr herausfordernd, aber möglich.
Reduzierung der globalen Erwärmung als grosses Ziel
Was kann, müsste man dagegen tun, wenn man das noch irgendwie vermeiden wollte?
Zunächst die Reduzierung der globalen Erwärmung, also nicht mehr Erwärmung als das Pariser Ziel von 1,5 Grad. Noch viel wichtiger aber ist es, die Entwaldung auf null zu setzen. Null Degradation, null Feuer. Und dann muss mit grossflächigen Aufforstungen begonnen werden, vor allem im südlichen Teil. Der Sekundärwald wächst sehr schnell, kann dann auch wieder mehr Wasser aufnehmen.
Die Ausdehnung der Trockenzeit würde gestoppt und die Temperatur würde sinken. Ausserdem würde in der Trockenzeit wieder mehr Regen fallen. Wenn wir es schaffen, den grössten Teil wieder mit Sekundärwald zu bedecken, können wir den Kipppunkt vermeiden und wir werden das Paris-Ziel erreichen. Aber: Auch schon bei 1,5 Grad – wir sind bereits bei 1,2 Grad angelangt – wären bereits extreme Dürren sehr viel häufiger als heute.
Bisher gab es ja immer die Haltung, der Amazonas sei ein riesengrosses, unerschöpfliches Gebiet mit vielen Ressourcen. Wie kann man diese Einstellung ändern?
Brasilien hat 60 Prozent der bewaldeten Flächen mit zugleich der höchsten Entwaldungsrate. Und mehr als 90 Prozent aller Entwaldung geschehen durch Rodungen für Viehzucht. Viehhaltung ist der grösste Beschleuniger der Entwaldung. Von der dafür erfolgenden Entwaldung sind wiederum 90 Prozent illegal. Alles ist organisierte Kriminalität. Das hat nichts damit zu tun, die Fleischproduktion zu erhöhen. Indem man diese organisierte Kriminalität bekämpft, könnte man die Entwaldung auf null senken. Das ist, was der gewählte Präsident Lula noch am Wahlabend sagte, wenige Stunden nachdem das Ergebnis feststand.
Er sagte: In den kommenden vier Jahren werde er die Entwaldung auf null reduzieren. Und es ist möglich. Das bedeutet in allererster Linie: Kriminalitätsbekämpfung. Fast jede Goldmine ist illegal. Die Umweltschäden durch die Goldminen liegen zwar in erster Linie in der Verseuchung mit Quecksilber. Aber auch das trägt zu drei bis vier Prozent zur Entwaldung bei. Mehr als 40 Prozent der Entwaldung sind Landraub. Rund 600.000 Quadratkilometer Wald sind öffentliches Land, das weder Indigenen gehört noch als Schutzgebiet ausgewiesen ist. Vieles davon wird sich illegal unter den Nagel gerissen, aber zugleich dringen diese Leute auch in Indigenen- und Naturschutzgebiete ein.
Sie sprachen gerade die enorme Grösse der Region an – kann man da auf technische Unterstützung zurückgreifen bei der Überwachung?
Mit Satellitenüberwachungstechnik sieht man praktisch alles. Bis hin zu einem grossen Baum, der gerade im Moment gefällt wird. Die Auflösung ist derart gut, bis auf wenige Meter kann man Dinge erkennen. Bei jedem illegalen Abbau ist der erste Schritt, eine Landepiste anzulegen, um Material, Ausrüstung und Personen dorthin zu schaffen. Die kann man natürlich auch sehen. Etwa 2.000 illegale Pisten gibt es in der Amazonasregion.
Goldminen sind überall verboten, ausser in Venezuela, wo der Abbau in indigenen Gebieten inzwischen erlaubt ist – eine schlechte Politik. Vor zehn Jahren noch war die Abholzung so gering wie nie zuvor (Anm. d. Red.: Das ging zurück auf ein Programm der damaligen Lula-Regierung aus dem Jahr 2004, für das Marina Silva federführend war. Das resultierte ausschliesslich aus der Bekämpfung der Illegalität.)
Klimafreundliche Politik: Das sind die Pläne der Lula-Regierung
Welche klimafreundlicheren Ideen der Landnutzung hat denn die kommende Regierung Lulas?
Natürlich muss man dann auch in nachhaltige Landwirtschaft investieren. Lula möchte eine neue Wirtschaft etablieren, eine Wirtschaft des "stehenden Waldes". Diese sieht die Nutzung der natürlichen Produkte des Waldes. Davon gibt es Hunderte. Das bedeutet auch: Lernen von der indigenen Bevölkerung, die dort seit 12.000 Jahren lebt. Sie benutzen Hunderte Produkte und der Wald bleibt stehen. Es ist möglich, nehmen Sie als Beispiel die Açai-Beere. Sie ist ein Waldprodukt, das 1,2 Milliarden Dollar in die Wirtschaft der Amazonasregion bringt. Das Potenzial ist enorm. Alle Menschen können ihre Lebensumstände verbessern und den Aufstieg in die Mittelklasse schaffen.
Es ist sinnvoll, den Wald zu erhalten. Der gewählte Präsident Lula mochte die Idee sehr, ein Amazonas Institute of Technology aufzubauen. Wir wollen ein modernes Technologieinstitut gründen, in diesem eine neue Wirtschaft entwickeln, den Wald und Indigene schützen. Wir planen das in einer Partnerschaft mit dem Fraunhofer Institut. Wir wollen zusätzlich auch mit den anderen Amazonas-Ländern sprechen, insbesondere mit Kolumbien. Während der Klimakonferenz COP27 werde ich den dortigen Umweltminister treffen und sobald Lula vereidigt ist, wollen wir das Konzept dieses neuen Instituts vorstellen. Natürlich brauchen wir dafür Geld, ein modernes Institut wird einige Hundert Millionen Dollar kosten. Aber das ist nicht viel im Vergleich zu den Billiarden Dollars, die man brauchen wird, um den Planeten vor dem Klimawandel zu bewahren.
Ich setze grosse Hoffnungen auf die COP27 oder COP28, dass dann ein globaler Kohlendioxid-Emissionshandel etabliert wird. Aufgeforstete Wälder werden viel CO2 aus der Atmosphäre binden, pro Hektar sind das zwischen elf und 18 Tonnen pro Jahr. So könnte dieser Emissionshandel für Aufforstungen 300 bis 500 Dollar pro Hektar einbringen, das ist etwa das Drei- bis Fünffache der Wertschöpfung durch die Rinderzucht. Nur durch die Aufforstung könnten wir also viel mehr Einnahmen generieren, als man durch Abholzung für Viehzucht je generieren könnte.
Es gibt Berechnungen, dass es zwei bis drei Milliarden im Jahr kosten würde, den Regenwald zu schützen…
Absolut! Es gibt eine seht interessante Studie von 2020. Demnach bräuchte es zwei Milliarden Dollar im Jahr, um den Regenwald in allen tropischen Ländern zu schützen.
Alle? Auch auf anderen Kontinenten?
Ja, alle. Aber diese Studie hatte einen besonderen Fokus auf den Zusammenhang mit Pandemien. COVID-19 allein verursachte weltweit einen Schaden von fast einer Billiarde Dollar. Die zwei Milliarden bräuchte es nur, um die Wälder zu schützen, um das Risiko weiterer Pandemien zu minimieren. Zusätzlich dazu sprechen wir von einer Wirtschaft, die den Wald stehen lässt, die Arbeitsplätze schafft und Wohlstand in den Ländern.
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Kann das Brasilien allein stemmen oder braucht es die Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft?
Die Weltgemeinschaft muss sich beteiligen. Die Amazonas-Länder, alle Länder in den Tropen, haben nicht das Geld, um Milliarden von Dollar zu investieren, um diese neue Wirtschaft zu fördern. Ausserdem müssen wir die Diversität von Märkten fördern, für die Produkte, die der Regenwald liefert. 80 Prozent unseres Eiweisskonsums gehen zurück auf den Konsum von 15 Produkten – tierische und pflanzliche, bei letzteren vor allem Soja und Mais. Wir müssen unsere Gewohnheiten ändern, uns künftig anders ernähren.
Das ist eine grosse Herausforderung für die Menschheit, den Klimawandel zu bekämpfen. Aber diese neue Wirtschaft ist machbar, um schnell den Kipppunkt zu vermeiden. Dafür braucht es die volle Unterstützung des ganzen Planeten, insbesondere der entwickelten Länder. Das ist absolut sinnvoll, vor allem am Anfang. Es braucht Anfangsinvestments, um zunächst die Entwaldung zu stoppen und die Wirtschaft umzubauen.
Viele Menschen sind in der Region bereits als Holzfäller oder Goldsucher aktiv – wie bekommt man die dort denn wieder raus?
Das sind alles illegale Aktivitäten des organisierten Verbrechens. Das Ganze wird nicht in der Region, sondern von ausserhalb gesteuert, meist aus dem Bundesstaat São Paulo. Natürlich ist das ein grosser Kampf. Insgesamt ist die Zahl der Kriminellen in der Region dort vergleichsweise gering – vielleicht 100.000 oder 150.000 Menschen. Im Regenwald leben 28 Millionen Menschen. Es richtet also auch keinen signifikanten wirtschaftlichen Schaden an, wenn man diese Kriminalität bekämpft.
Herr Professor, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben für dieses Gespräch.
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