Ankara setzt ganz offen Migranten als Druckmittel ein. Griechenland zeigt sich entschlossen, einen massenhaften Andrang von Flüchtlingen in die EU abzublocken. Kann sich das Jahr 2015 wiederholen?
Der mit seiner Syrien-Politik unter Druck geratene türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat der EU offen mit einem neuen Massenandrang von Flüchtlingen gedroht. "Seit der Stunde, in der wir unsere Grenzen geöffnet haben, hat die Zahl derjenigen, die sich nach Europa aufmachen, mehrere Hunderttausend erreicht. Und es werden noch mehr werden. Bald wird man von Millionen sprechen", sagte Erdogan am Montag in Ankara. Die Zahlen derer, die an der Grenze warten oder sie überschreiten, variieren je nach Quelle allerdings stark. Deutliche Kritik kam Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Merkel: Das ist "völlig inakzeptabel"
Bei allem Verständnis für die Lage der Türkei sei es "völlig inakzeptabel, dass man das jetzt auf dem Rücken von Flüchtlingen austrägt", sagte die Kanzlerin. "Denn die Flüchtlinge sind jetzt in eine Situation gebracht worden, dort an die Grenze zu gehen und im Grunde in einer Sackgasse zu landen", fügte die CDU-Politikerin hinzu.
Nach UN-Angaben harren rund 13 000 Migranten bei Kälte auf der türkischen Grenzseite zu Griechenland aus. Viele wollen weiterziehen, etliche nannten im Fernsehen Deutschland als Ziel. Griechische Sicherheitskräfte gingen erneut mit Blendgranaten und Tränengas gegen Hunderte Migranten vor. Diese hatten versucht, die Grenze bei Kastanies zu passieren und nach Griechenland und damit in die EU zu gelangen, wie das griechische Staatsfernsehen (ERT) berichtete.
3,6 Millionen Flüchtlinge in der Türkei
Erdogan hatte am Samstag verkündet, die Türkei habe für die Flüchtlinge im Land die Grenzen geöffnet. Daraufhin machten sich Migranten auf den Weg. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkriegs im Nachbarland Syrien rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Dazu kommen viele Migranten und Flüchtlinge aus Afghanistan und anderen Ländern.
Gleichzeitig verschlimmerte sich die humanitäre Lage in Nordsyrien, wo in der letzten grossen Rebellenhochburg Idlib die syrische Regierung mit russischer Unterstützung auf dem Vormarsch ist - ungeachtet des türkischen Militäreinsatzes auf syrischem Gebiet. Die Türkei hatte bereits zuvor gewarnt, sie könne und wolle keinen weiteren Zusturm von Flüchtlingen bewältigen.
2015 wird sich nicht wiederholen
Die Bundesregierung warnte Flüchtlinge und Migranten in der Türkei vor einem Aufbruch Richtung Europa. "Wir erleben zurzeit an den Aussengrenzen der EU zur Türkei, auf Land und zur See, eine sehr beunruhigende Situation. Wir erleben Flüchtlinge und Migranten, denen von türkischer Seite gesagt wird, der Weg in die EU sei nun offen, und das ist er natürlich nicht", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Auf die Frage, ob der Satz der Kanzlerin weiter gelte, dass sich 2015 nicht wiederholen werde, sagte er: "Der hat seine Gültigkeit." Ausdrücklich sprach er von "Flüchtlingen und Migranten" - nicht jeder werde nach der gültigen Definition Flüchtling sein.
Die europäische Krisendiplomatie lief auf Hochtouren. Vor dem Hintergrund des Syrien-Konflikts und der angespannten Lage an der EU-Aussengrenze warnte Aussenminister
"Kollektive Angriffe auf die Grenze"
Der CSU-Europapolitiker
Die AfD will, dass Deutschland wegen der nach Europa drängenden Migranten und Flüchtlinge die nationalen Grenzen dicht macht. "Griechenland und Bulgarien müssen von uns volle finanzielle und logistische Unterstützung für den erforderlichen robusten Aussengrenzenschutz erhalten", schrieb Parteichef Jörg Meuthen auf seiner Facebook-Seite. Als "zweiter Sperrriegel" müssten zugleich "Schutzvorkehrungen" an den deutschen Grenzen getroffen werden.
Merkel telefoniert mit Erdogan
An diesem Dienstag wollen sich die Spitzen der EU ein eigenes Bild vom Geschehen an der Grenze machen. Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis teilte mit, er werde am Dienstag EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratschef Charles Michel und Europaparlamentspräsident David Sassoli an der griechischen Landgrenze zur Türkei treffen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wollte noch am Montag mit Bundeskanzlerin
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte einen konsequenten Schutz für Flüchtlinge an den EU-Aussengrenzen. Pro Asyl warb angesichts des grossen Andrangs für die Aufnahme von mehr Schutzsuchenden in Deutschland. Die Vereinten Nationen (UN) warfen der internationalen Gemeinschaft unterdessen in scharfen Worten humanitäres Versagen bei der Hilfe in Syrien vor.
Esken: Erdogan weckt falsche Hoffnungen
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken nannte es "ganz klar unverantwortlich", dass Erdogan Geflüchteten in der Türkei den Eindruck vermittelt habe, er werde die Grenze öffnen und so falsche Hoffnungen geweckt habe. Der EU-Türkei-Flüchtlingspakt müsse eingehalten werden - und das sei von Seiten der EU auch der Fall.
Die europäische Grenzschutzagentur Frontex stellte Hilfe in Aussicht. Auf Bitten Griechenlands habe er eine rasche Intervention auf den Weg gebracht, teilte Frontex-Direktor Fabrice Leggeri mit. Derzeit hänge die Arbeitsweise noch vollständig von den EU-Mitgliedstaaten ab. Diese könnten auf einen Stab mit 1500 Einsatzkräften sowie auf Ausrüstung zugreifen. Die EU-Staaten hätten fünf Tage Zeit, Personal zu schicken - und zehn Tage für die Ausrüstung.
Schiessübungen in Griechenland
Österreich und Ungarn betonten ihren gemeinsamen Willen zum Kampf gegen illegale Grenzübertritte. Einheiten der griechischen Armee führten auf den Inseln im Osten der Ägäis und am Evros Schiessübungen durch, wie das Staatsfernsehen unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Athen berichtete. Die Übungen sind aus Sicht von Kommentatoren eine Reaktion Athens auf den Zustrom von Migranten, die am Vortag aus der Türkei zu den Inseln Lesbos, Chios und Samos übergesetzt hatten, und sollen offenbar der Abschreckung dienen.
In einem Flüchtlingspakt mit der EU von 2016 hat die Türkei eigentlich zugesagt, gegen illegale Migration vorzugehen. Im Gegenzug nimmt die EU regulär Syrer aus der Türkei auf. Ankara erhält zudem finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtlinge im Land. (mss/dpa)
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