In der Türkei werden Zeitungen dichtgemacht, politische Gegner misshandelt, die Todesstrafe könnte wiedereingeführt werden. Kann so ein Staat Mitglied der Europäischen Union werden? Eine Expertin sagt, der Beitritt sei "in weite Ferne gerückt."

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Es waren klare Worte, die der österreichische Aussenminister Sebastian Kurz Anfang Oktober in Richtung Türkei aussprach. "Ich bin mir sicher, es wird keinen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geben", sagte der ÖVP-Politiker der Zeitung "Die Welt". Schon seit der Aufnahme der offiziellen Beitrittsverhandlungen 2005 gab es - vor allem von konservativen Politikern - viel Gegenwind.

Seit dem misslungenen Putschversuch im Juli und der darauf folgenden Verhaftungswelle, den türkischen Gedankenspielen zur Wiedereinführung der Todesstrafe sowie den Repressalien gegen die Presse scheint ein Beitritt zur Union ferner denn je. Die EU und die Türkei - hat das noch eine Zukunft?

"Erosion der Demokratie"

Gülistan Gürbey hat daran grosse Zweifel. "Vor allem aufgrund der Erosion der Demokratie und aufgrund des rasanten Ansteigens des Autoritarismus in der Türkei ist ein EU-Beitritt in weite Ferne gerückt", sagt die Politikwissenschaftlerin von der Freien Universität Berlin im Gespräch mit unserer Redaktion.

Derzeit würde die Türkei die Kopenhagener Kriterien, die 2005 eine Bedingung für den Beginn der Beitrittsverhandlungen waren, "nicht erfüllen".

Auch Cem Özdemir, ist skeptisch. "Nach der Rückkehr zum Folterstaat wäre die offizielle Einführung der Todesstrafe der letzte Beleg, dass Erdogan mit der EU und westlichen Werten nichts anfangen kann", sagte der Parteichef der Grünen der "Stuttgarter Zeitung". Die Türkei entwickele sich zu einer "modernen Art von Diktatur mit demokratischer Fassade."

"Weder beitrittsbereit noch beitrittsfähig"

In der EU-Spitze sieht man die jüngsten Entwicklungen ebenfalls mit Sorge, will die Tür aber nicht voreilig zuschlagen. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) erklärte, die Beitrittsperspektive bleibe "selbstverständlich" bestehen. Das Land sei derzeit "weder beitrittsbereit noch beitrittsfähig", betonte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im August.

Zugleich warnte Juncker davor, die Gespräche mit der Türkei einzustellen. "Wir befinden uns ja nicht nur mit Herrn Erdogan und seiner Regierung im Gespräch, sondern streben eine Gesamtlösung an, die dem türkischen Volk von Nutzen sein wird" sagte er.

Die Verantwortlichen hoffen, dass über die Gespräche über Themen wie Pressefreiheit oder Rechtsstaatlichkeit längerfristig eine Anhebung der dortigen Standards erfolgt.

Doch entschiedene Kritik gegen die demokratiefeindlichen Entwicklungen sei in den vergangenen Monaten ausgeblieben, bedauert Politologin Gürbey. "Der EU sind wegen des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei die Hände gebunden. Bislang haben es Brüssel und Berlin weitgehend vermieden, jenseits sporadischer kritischer Stellungnahmen entschieden und konsequent zu handeln", betont die Expertin.

Es fehle ein glaubwürdiges kritisches Signal in Richtung Ankara. Beobachter sagen, die EU habe sich von der Türkei abhängig gemacht und nun keine Druckmittel mehr in der Hand.

EU-Mitgliedschaft: "Krönung" für die Türkei

Die türkische Regierung hat als Ziel ausgegeben, bis zum Jahr 2023 EU-Mitglied zu sein. In dem Jahr feiert das Land sein hundertjähriges Bestehen. "Es wäre die Krönung für mein Land", sagte der türkische EU-Botschafter Selim Yenel. "Für uns wäre es langfristig nicht akzeptabel, nicht zur EU zu gehören", ergänzte der Politiker. Auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist überzeugt, dass die Türkei "Europa kann".

Trotz solcher Bekundungen hat die EU-Mitgliedschaft für die AKP-Regierung in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren. "Sie hat keine Priorität mehr", betont Gürbey. Wichtiger seien die hegemonialen Grossmachtambitionen in der Region geworden. "Die Türkei schwankt gegenüber der EU zwischen weitestgehend selbstverschuldeter Abkapselung und dem Wunsch, dazu zugehören."

Scheitert das Flüchtlingsabkommen?

Derzeit können sich beiden Seiten nicht einmal über die Details des Flüchtlingsabkommens einigen. Im Gegenzug für die Abriegelung der türkischen Grenze nach Europa hatte die EU der Türkei Visa-Erleichterungen in Aussicht gestellt. Brüssel fordert eine Nachbesserung der türkischen Anti-Terror-Gesetze.

Aussenminister Mevlüt Cavusoglu sagte vor wenigen Tagen der "Neuen Zürcher Zeitung": "Unsere Geduld neigt sich dem Ende zu. Wir warten auf eine Antwort in diesen Tagen. Wenn die nicht kommt, werden wir die Vereinbarung kündigen. Wir warten nicht bis Jahresende."

In Europa werden solche Drohungen aufmerksam verfolgt. Ohne das Abkommen wären die Flüchtlingszahlen 2016 nicht so deutlich gesunken - wenn überhaupt. Zudem ist die Türkei ein wichtiger Partner: 2015 war sie der viertwichtigste Exportmarkt der EU - noch vor Russland. "Die Türkei besitzt für die EU eine geostrategische, energiepolitische und wirtschaftliche Bedeutung. Beide sind eng vernetzt, aber gerade aus wirtschaftlicher Sicht ist die Türkei mehr von Europa abhängig als anders herum", betont Expertin Gürbey.

Anders sieht das der türkische Präsident: "Die Europäische Union braucht die Türkei mehr, als die Türkei die Europäische Union braucht", ist Erdogan überzeugt.

Wie geht es nun weiter mit der EU-Mitgliedschaft? Österreichs Aussenminister Sebastian Kurz kann sich höchstens eine "massgeschneiderte Partnerschaft" vorstellen. Angela Merkel sprach einst von einer "privilegierten Partnerschaft". Letztlich meinen beide das gleiche: Man möchte die Türkei nicht in der EU haben, jedenfalls nicht so richtig. Und die Türkei tut derzeit wenig dafür, dass sich die Einstellung der Politiker ändern könnte.

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