- Die belarussischen Behörden haben am Sonntag eine Ryanair-Maschine zur Landung gezwungen und den Blogger Roman Protassewitsch festgenommen.
- Dem Regimekritiker wird vorgeworfen, zu Protesten gegen Machthaber Alexander Lukaschenko aufgerufen zu haben.
- Die internationale Staatengemeinschaft reagiert empört und erlässt Sanktionen gegen Belarus.
Was ist passiert?
Behörden in der autoritär regierten Republik Belarus haben am Sonntag ein Flugzeug auf dem Weg von Athen nach Vilnius (Litauen) umgeleitet und in der Hauptstadt Minsk zur Landung gezwungen. An Bord der Passagiermaschine der Fluggesellschaft Ryanair war unter den mehr als 100 Passagieren auch der vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko international gesuchte Blogger Roman Protassewitsch. Er und seine Lebensgefährtin wurden noch auf dem Flughafen festgenommen.
Wie lief die erzwungene Landung der Maschine ab?
Ryanair bestätigte, dass einer ihrer Flieger auf dem Weg von Athen in die litauische Hauptstadt Vilnius nach Minsk umgeleitet worden sei. Die Besatzung des Fluges sei von belarussischer Seite über eine mögliche Sicherheitsbedrohung an Bord in Kenntnis gesetzt und angewiesen worden, zum nächstgelegenen Flughafen in Minsk zu fliegen. Die vermeintliche Bombendrohung dürfte allerdings nur ein Vorwand des belarussischen Regimes gewesen sein.
Die Maschine sei sicher gelandet und die Passagiere seien von Bord gegangen, während die lokalen Behörden Sicherheitsüberprüfungen erledigt hätten, teilte Ryanair weiter mit. Dabei sei nichts Ungewöhnliches gefunden worden. Die Behörden hätten daraufhin genehmigt, dass das Flugzeug nach schätzungsweise fünf Stunden am Boden wieder zusammen mit Passagieren und Crew starten könne. Am späten Abend teilte Ryanair schliesslich mit, dass Flug FR4978 um 21:25 Uhr Ortszeit sicher in Vilnius gelandet sei.
Zur Begleitung der Ryanair-Maschine sei auch ein Kampfjet vom Typ MiG-29 aufgestiegen, bestätigte der Flughafen. Flughafensprecher teilten in Staatsmedien mit, die Piloten an Bord der Maschine hätten um die Landeerlaubnis gebeten. Später habe sich die Information über die mutmassliche Bombe als Fehlalarm herausgestellt.
Der frühere Kulturminister Pawel Latuschko, der in der EU als Oppositioneller im Exil lebt, sagte unter Berufung auf seine Kontakte, dass die Flugleitzentrale in Minsk den Piloten mit einem Abschuss der Maschine gedroht habe, wenn sie nicht landeten. Dazu sei auch ein mit Raketen bewaffneter Kampfjet MiG-29 aufgestiegen, um das Flugzeug zur Umkehr und auf den Boden zu zwingen. Dass ein Kampfjet aufstieg, haben die Behörden in Minsk zwar bestätigt, nicht aber die Drohung gegen die Piloten.
Warum wollte das belarussische Regime Protassewitsch in Gewahrsam nehmen?
Oppositionelle in Belarus sprachen am Sonntag von einem beispiellosen Eingriff in den internationalen Luftraum. Auch der regierungskritische Nachrichtenkanal Nexta bestätigte die Festnahme seines Mitbegründers und früheren Redakteurs Roman Protassewitsch, der an Bord der Ryanair-Maschine gewesen sei. Protassewitsch sei schon in Athen vor dem Einstieg ins Flugzeug verfolgt worden, hiess es. Lukaschenko habe mit einem Verstoss gegen alle Gesetze ein Flugzeug "gekapert", kritisierte der Kanal. Nexta forderte Ryanair auf, den Vorfall aufzuklären.
Die Behörden in Belarus stufen Nexta als extremistisch ein. Der Kanal hatte im vergangenen Jahr nach der umstrittenen Präsidentenwahl immer wieder zu Massenprotesten gegen Lukaschenko aufgerufen. Der Blogger Protassewitsch gehört zu den vielen international zur Fahndung ausgeschriebenen Oppositionellen, denen Lukaschenko persönlich den Kampf angesagt hat.
Protassewitsch, so berichten Augenzeugen, scheint noch im Flugzeug gewusst zu haben, dass die Aktion der Behörden ihm gilt. "Er geriet in Panik und sagte, dass dies seinetwegen sei", sagte die 40-jährige Passagierin Monika Simkiene nach der Landung. "Er hat sich einfach zu den Leuten umgedreht und gesagt, dass ihm die Todesstrafe droht", fügte sie hinzu. Der Oppositionelle sei plötzlich "sehr ruhig" geworden.
Ein weiterer Passagier, der nur seinen Vornamen Mantas nennen wollte, sagte ebenfalls, dass Protassewitsch zunächst sehr nervös gewirkt habe, "aber dann, als er verstand, dass er nichts daran ändern kann, beruhigte er sich und akzeptierte es".
Wie geht es dem festgenommenen Blogger Roman Protassewitsch?
"Wir sind sehr besorgt um unseren Sohn", sagte sein Vater Dmitri Protassewitsch im Interview mit dem Sender Radio Swoboda. "Leider wissen wir nicht, wo er ist und was mit ihm ist. Wir hoffen auf das Beste." Protassewitsch zeigte sich überzeugt, dass es sich um eine sorgfältig geplante Operation "wahrscheinlich nicht nur von den Geheimdiensten von Belarus" handelte. Russland ist enger Verbündeter von Belarus - und sicherte dem Nachbarn einmal mehr volle Unterstützung zu.
Protassewitsch war nach Angaben seines Vaters auf der Rückreise von einem Griechenland-Urlaub in die litauische Hauptstadt Vilnius gewesen, als Lukaschenko das Flugzeug zur Landung zwingen liess. Dmitri Protassewitsch sprach von einem "Terrorakt". "Die Operation hatte ein grosses Ausmass, um auf die gesamte internationale Gemeinschaft zu spucken und auf deren Meinung", sagte Protassewitsch.
In einem regierungsnahen Nachrichtenkanal beim Messengerdienst Telegram bestätigte der Blogger, dass er im "Untersuchungsgefängnis Nr. 1" in der Hauptstadt Minsk sei. Zu Berichten über einen angeblichen Krankenhausaufenthalt wegen Herzproblemen sagte er: "Ich kann erklären, dass ich keine gesundheitlichen Probleme habe, auch nicht mit dem Herzen und anderen Organen." Er werde gesetzeskonform behandelt. Er arbeite mit den Ermittlern zusammen und wolle weitere Geständnisse ablegen.
Nach Einschätzung der Opposition ist das Video unter Druck zustande gekommen. "Roman hat nie freiwillig gesagt, was er jetzt in die Kamera gesagt hat", hiess es bei Telegram. "Sein Gesicht ist geschminkt, Spuren von Schlägen sind sichtbar, seine Nase ist gebrochen."
Die belarussische Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja vermutet ebenfalls, dass der festgenommene Protassewitsch im Gefängnis gefoltert wird. Die internationale Gemeinschaft müsse nun über gemeinsame Schritte diskutieren, "um die Täter vor Gericht zu stellen", schrieb Tichanowskaja am Dienstag bei Telegram. Zugleich forderte sie die sofortige Freilassung des 26-Jährigen und auch anderer politischer Gefangener in Belarus. Tichanowskaja lebt in Litauen im Exil. Sie war bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr gegen Lukaschenko angetreten. Viele Menschen in Belarus halten sie für die eigentliche Siegerin der Wahl vom 9. August 2020.
Wie hat die internationale Staatengemeinschaft auf die Aktion reagiert?
Nicht nur haben die Mitglieder der Europäischen Union die Aktion der belarussischen Behörden scharf kritisiert, sie haben auch bereits neue Sanktionen gegen das Land erlassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einem "beispiellosen Vorgehen der belarussischen Autoritäten". Vor Beginn des EU-Gipfels forderte sie die sofortige Freilassung des Bloggers und seiner Partnerin.
Diese Forderung wurde dann auch in den offiziellen EU-Beschluss für Strafmassnahmen aufgenommen. Zudem sollen belarussische Fluggesellschaften nicht mehr den Luftraum und die Flughäfen der EU nutzen dürfen. Die EU erweitert darüber hinaus die bestehende Liste mit Personen und Unternehmen, gegen die Vermögenssperren und Einreiseverbote gelten.
Auch US-Präsident Joe
Belarus zeigte sich derweil offen für eine internationale Untersuchung des Vorfalls. "Ich bin sicher, dass wir in dieser Angelegenheit in der Lage sind, volle Transparenz zu gewährleisten", sagte der Sprecher des Aussenministeriums, Anatoli Glas, in Minsk. Wenn nötig, sei Belarus auch bereit, "Experten zu empfangen" und Informationen offenzulegen, um Unterstellungen zu vermeiden. Der Kreml in Moskau sprach sich ebenfalls für eine internationale Untersuchung aus.
Was bedeutet der Vorfall für den Flugverkehr über Belarus?
Die Lufthansa meidet bis auf Weiteres den Luftraum über der ehemaligen Sowjetrepublik. Vor allem Flüge nach Moskau müssten nun umgeleitet werden, sagte ein Sprecher am Dienstag in Frankfurt. Sie seien aber auch in der Vergangenheit nicht immer über Belarus geflogen. Über einen für Mittwoch geplanten Lufthansa-Flug von Frankfurt nach Minsk sei noch nicht entschieden.
Ähnlich wie die Lufthansa verfahren viele weitere Airlines, die den Luftraum über Belarus vorerst meiden wollen; etwa Air France, Air Baltic und Wizz Air.
Nach Angaben der europäischen Luftsicherheitsbehörde Eurocontrol gab es seit Anfang April im Durchschnitt täglich 339 Flüge von und nach Europa durch den belarussischen Luftraum. Besonders häufig sind Verbindungen zwischen Russland (29) und China (14) von und nach Deutschland. Die weitaus meisten Flüge absolvierte die belarussische Staatsfluglinie Belavia mit 46 pro Tag, für die nun ein Landeverbot in der EU gilt. (dpa/AFP/mko)
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