Die blutige Reaktion der israelischen Armee auf eskalierende Proteste der Palästinenser in Gaza von Montag empören die Schweiz. Die Meinungen sind gemacht: Schuld am Blutbad seien Extremisten auf beiden Seiten sowie der amerikanische Präsident Donald Trump. Gegenstimmen gibt es kaum.
Am Tag des 70-jährigen Bestehens des israelischen Staates und der Verlegung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem ist es im Gazastreifen und dem Westjordanland zu gewalttätigen Protesten gekommen. Israelische Soldaten setzten Schüsse und Tränengas ein. Über 50 Palästinenser wurden getötet, rund 2.770 verletzt. Das war der blutigste Tag seit 2014.
Die Schweizer Presse reagierte kritisch auf die Reaktion Israels. Die Neue Zürcher Zeitung titelte: "Die Stunde der Scharfmacher" und kritisierte,
Israelische Scharfmacher wittern laut NZZ ihre Chance und wollen das Land vom Mittelmeer bis mindestens zum Jordan für sich. "Trumps Politik ist für sie der Startschuss zu einer finalen, rabiaten Flurbereinigung." Sowohl jüdische Extremisten als auch die Hamas wollten und suchten die Eskalation. "Und so verlieren sich im Pulverdampf langsam, aber sicher die Konturen der Zweistaatenlösung, der einzigen vernünftigen Regelung."
Der Tages-Anzeiger/Bund kommentiert, die Verlegung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem sei eine arrogante Machtdemonstration, mehr Provokation gegenüber den Palästinensern gehe fast nicht. Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt sei nicht nötig gewesen. Trump sei vorgeprescht, um evangelikale Wähler und israelische Freunde zufriedenzustellen. Damit würden Fanatiker in ihrem Hass bestätigt.
Israelkritische Westschweizer Medien
Besonders hart im Urteil mit Israel sind die französischsprachigen Zeitungen. La Liberté schreibt in einem Kommentar, Donald Trump habe zwar die Idee der Verlegung der Botschaft nach Jerusalem nicht selbst erfunden, sondern lediglich ein vom Kongress 1995 verabschiedetes Gesetz angewandt. Doch der Zweck bleibe derselbe: in Palästina eine Politik der "fait accompli" anzuwenden und jegliche Hoffnung auf einen Friedensprozess implodieren zu lassen. Die Palästinenser seien in dem Ganzen bloss eine Variable, die sich dem Gesetz des Stärksten zu unterwerfen hätten.
Die Tribune de Genève (TdG) titelt provokativ: "Jeu de massacre israélien" (Israelisches Massaker-Spiel). Der israelische Premierminister Benyamin Netanyahou rechtfertige sich mit der Selbstverteidigung, weil die Hamas Israel zerstören wolle. "Welche Verachtung für das menschliche Leben!", kommentiert die TdG. Und weiter: "Wie können wir uns nicht über diese unverhältnismässige Anwendung von Gewalt empören?" Israel habe auch schon vor Donald Trump einen treuen Verbündeten in Washington gehabt. Aber letzterer habe immerhin noch Grenzen gesetzt. Jetzt sei alles erlaubt.
Hoffnung auf neue Generation setzen
Versöhnliche und hoffnungsfrohe Worte findet hingegen der Corriere del Ticino: Es müsse für Israelis und Palästinenser einen Weg geben, um Seite an Seite in gegenseitigem Respekt leben zu können. Als positives Beispiel nennt die Zeitung die Stadt Rawabi in der Nähe von Ramallah. "Dort entwickeln sich palästinensische Start-ups, in denen eine brillante und friedliche neue Generation mit den Israelis zusammenarbeiten will."
In Rawabi komme es zu friedlichen Treffen zwischen israelischen Siedlern und palästinensischen Pazifisten, so der Corriere del Ticino. Mit diesen Vertretern der israelischen und palästinensischen Gesellschaft lasse sich vielleicht ein neuer Weg zum friedlichen Zusammenleben finden – wenn die internationale Gemeinschaft ihren Beitrag zur Bekämpfung aller Arten von Radikalismus leiste.
Ambivalentes Verhältnis der Schweiz zu Israel
Der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis weilt zurzeit in Jordanien, wo er am Montag Gespräche mit seinem jordanischen Amtskollegen führte. Cassis forderte auf Twitter alle Parteien zu einem Gewaltverzicht auf. Er sei zutiefst besorgt über die Gewalteskalation im Nahen Osten und die Zahl der Toten.
Auch in der Schweiz gibt es Stimmen, die eine Verlegung der Schweizer Botschaft nach Jerusalem verlangen. Die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) reichte am Montag zuhanden von Regierung und Parlament eine entsprechende Petition mit rund 20.000 Unterschriften ein.
Das Verhältnis zwischen der Schweiz und Israel ist ambivalent und hat sich über die Zeit verändert: Die Schweiz anerkannte Israel 1949 und unterhält seither intensive Handelsbeziehungen mit dem Staat. Während in den 1960er-Jahren in der öffentlichen Meinung eindeutig pro-israelische Positionen festzustellen waren, hat sich das Verhältnis später deutlich abgekühlt. Heute gibt es starke propalästinensische, aber auch proisraelische Bewegungen in der Schweiz. © swissinfo.ch
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