Der EU-Gipfel Ende Juni steht für die Asylpolitik nicht unter dem Stern des Kompromisses und Fortschritts. Italien setzt die Staatengemeinschaft mit härterer Gangart unter Druck, Dänemark will Abschiebezentren im Ausland. Politikwissenschaftler Olaf Kleist erwartet angesichts der unterschiedlichen Interessenlage keine weitreichenden Kompromisse, warnt aber: "Es geht um die Zukunft der EU!"
Angela Merkel und Horst Seehofer streiten sich über die Zurückweisung von Asylbewerbern, Italien verweigert währenddessen dem Schiff "Aquarius" mit Hunderten Flüchtlingen an Board die Einreise, Dänemark plant ein Abschiebe-Lager im Ausland und einige Staaten verweigern sich allem.
Die Vorzeichen für den EU-Gipfel Ende Juni stehen in Sachen Flüchtlingspolitik eher auf Ablehnung, Streit und Konfrontation - denn auf Kompromiss, Einheit und Fortschritt.
Ist eine Einigung überhaupt möglich?
"Ich bin nicht wirklich optimistisch", gibt Politikwissenschaftler Dr. Olaf Kleist vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (Universität Osnabrück) zu.
"Es geht aktuell eher um eine gegenseitige Abwehr der Verantwortung als um eine Verantwortungsteilung, wie man sie erwarten sollte." Solidarität vermisst der Experte an vielen Stellen.
Der Asylrechtsumbau ist spätestens seit dem Jahr 2015, dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, eine der grössten Baustellen der EU.
Knackpunkt: Der Streit über ein Quotensystem für die Verteilung von Flüchtlingen. "Das Dublin-System weist dem EU-Land die Hauptaufgabe für das Asylverfahren zu, das ein Flüchtling zuerst betritt. In der Realität funktioniert das nicht, denn die Länder an den südlichen EU-Aussengrenzen, wie Italien und Griechenland, sind völlig überlastet", urteilt Experte Kleist.
Italien setzt EU unter Druck
Kein Wunder also, dass Italiens Regierung versucht, sich mit härterer Gangart Gehör zu verschaffen.
"So schockierend es sein mag, Italiens Verhalten ist eine starke Reaktion auf die Trägheit der anderen EU-Länder", kommentiert passend die französische Zeitung "L'Alsace".
Für den Chef der rechten Lega, Matteo Salvini, bedeutet Spaniens Bereitschaft, die Flüchtlinge der "Aquarius" aufzunehmen, vor allem eins: "Sieg!", twitterte der italienische Innenminister. Es habe sich gelohnt, den Mund aufzumachen: "Erstes Ziel erreicht!"
Spanien zeigte unter seinem neuen Regierungschef Pedro Sánchez ein solidarisches Gesicht: Mit der Bereitschaft, die 629 Flüchtlinge nach ihrer Irrfahrt auf dem Mittelmeer aufzunehmen, positioniert Sánchez das Land als Gegenmodell zu Italien und Malta, die eine Aufnahme zuvor abgelehnt hatten.
Mangel an Einheit und Solidarität
Ein Blick auf die 28 Mitgliedstaaten zeigt: Gemeinsam haben die Länder in Bezug auf Flüchtlinge vor allem eins; Differenzen sorgen immer wieder für politische Konflikte.
"Man kann die Mitgliedstaaten in verschiedene Gruppen einteilen", sagt Politikwissenschaftler Kleist. Je nachdem, welche Faktoren man betrachte, ergäben sich unterschiedliche Konstellationen.
"Besonders bedeutend ist die geografische Lage: Die Länder, in denen Asylsuchende in der Regel zuerst ankommen, haben ganz andere Interessen, als Länder, die keine Erstzugangsländer sind", beschreibt Kleist.
So würden besonders Italien und Griechenland immer wieder ihre Überforderung betonen.
"Die anderen EU-Länder lassen sie im Stich", urteilt Kleist. "Eine weitere Gruppe stellen die Visegrád-Staaten, darunter Polen und Ungarn, dar. Sie verweigern sich seit langem einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik."
Laut Kleist seien die nordischen Länder wie Schweden und Finnland eine Gruppe, die traditionell progressive Flüchtlingspolitik betrieben habe. "Aber auch hier kippt die Stimmung", beobachtet der Experte.
Abschiebe-Zentren im Ausland
Heribert Prantl kommentierte vor wenigen Tagen in der Süddeutschen: "Es gibt keine Regierung in Europa mehr, die das Asylrecht offensiv verteidigt. Die Flüchtlinge werden nur noch numerisch registriert; ihre Geschichte, ihr Schicksal interessiert immer weniger."
Die neue EU-Asylpolitik nennt Prantl eine "Outsourcing-Politik."
Die Diskussionen um Anker-Zentren in Deutschland und Österreich, aber auch Dänemarks neuester Vorstoss sind dafür Beispiele:.
Laut Aussage des dänischen Ministerpräsidenten Lars Lokke Rasmussen will Dänemark in Kooperation mit weiteren Ländern, darunter Österreich, Deutschland und die Niederlande, vor den Toren Europas ein Zentrum für abgelehnte Asylbewerber hochziehen.
Verschärfung der Asylgesetze
Die neue Einrichtung würde ausserhalb der EU, aber noch auf dem europäischen Kontinent liegen, sagte Rasmussen.
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz bestätigte diese Planungen: "Es ist eine Initiative in Absprache mit einigen wenigen europäischen Staaten", sagte er bei einem Besuch der EU-Kommission in Brüssel.
Dieser neueste Vorschlag der dänischen Regierung ist nicht der einzige restriktive Schritt, sie hatte ihre Asylgesetze in den vergangenen Jahren immer wieder verschärft.
Unter den Massnahmen waren auch Passkontrollen an der Grenze zu Deutschland, das umstrittene Schmuckgesetz, wonach die Polizei Geflüchteten Bargeld und Wertgegenstände abnehmen darf sowie die Entscheidung, in Krisensituationen einigen Asylbewerbern die Einreise zu verwehren.
EU-Regierungen immer restriktiver
Spiegeln sich die unterschiedlichen Herangehensweisen in den Leistungen für Flüchtlinge wider?
"Im Prinzip müssen die Leistungen überall dem gleichen Minimum entsprechen, das regeln EU-Gesetze. Sie werden jedoch nicht immer in gleichem Masse umgesetzt", sagt Migrationsforscher Kleist.
In Italien beobachte er viel Obdachlosigkeit und Armut auch unter anerkannten Flüchtlingen.
"Ebenso sind Bulgarien und Griechenland Länder, in denen die Umsetzung der Rechte von Flüchtlingen nicht adäquat ist", so Kleist weiter. Das habe auch etwas damit zu tun, wie die Sozialsysteme in den einzelnen Ländern generell funktionierten.
Feststeht: "Die Flüchtlingspolitik spaltet viele Gesellschaften, unabhängig davon, ob eine rechtspopulistische Partei mit in der Regierung ist", beobachtet Kleist.
In Deutschland habe man gesehen, wie sich die Stimmung von der anfänglichen Willkommenskultur immer weiter entfernt habe.
"Populistische Parteien sind in ganz Europa auf dem Vormarsch, und die Politik ist in Deutschland und Österreich, ebenso wie in Schweden und Dänemark restriktiver geworden", so der Wissenschaftler.
Fortschritte fragwürdig
Eine einheitliche Linie der EU in puncto Flüchtlingspolitik vermisst er seit Jahren. "Es gibt zwar verschiedene Vorschläge und Reformversuche, bislang aber nicht wirklich vielversprechend", meint Kleist.
Verantwortungsteilung sei ein Grundprinzip in der EU - nicht nur in der Flüchtlingspolitik.
"Es ist sehr schwierig, weitere Fortschritte zu machen, weil dieses Prinzip durch einige Länder infrage gestellt wird", erklärt Experte Kleist.
Fortschritte erwartet er auch vom kommenden EU-Gipfel nicht, hält aber die Idee der "Flexiblen Solidarität", die auch von Merkel vertreten wird und einen Ausgleich zwischen den Positionen bringen soll, noch am vielversprechendsten.
"Dabei könnten sich einige Länder von der Flüchtlingsaufnahme freikaufen und Gelder beispielsweise zur Grenzsicherung zahlen", erläutert Kleist.
Für ihn ist das aber ein fauler Kompromiss. "Die gemeinsame Verantwortung kommt dabei immer noch zu kurz", unterstreicht der Experte.
"Die Hoffnung, dass wir irgendwann so etwas wie ein gemeinsames europäisches Flüchtlings- und Schutzsystem haben, liegt in weiter Ferne. Es muss jetzt zunächst darum gehen, gemeinsame Handlungsfähigkeit herzustellen."
Ausverkauf der Menschenrechte
Der These von Politikwissenschaftler Hendrik Vos schliesst sich Kleist indes nicht an. Dieser hatte ausgeführt: "In der Diskussion über die künftigen EU-Haushalte sind sich ja schon alle einig: mehr Geld für den Schutz der Aussengrenzen. Wenn das geregelt ist, wird es auch einfacher, über eine Verteilung von Flüchtlingen zu reden."
Kleist widerspricht. In seinen Augen ist der Grenzschutz eine Illusion. "Man kann die Grenzen nicht gänzlich schliessen, Europa darf keine Festung werden."
Es gehe nicht so sehr um die Anzahl der Flüchtlinge, so Kleist, sondern um die humanitäre Grundidee der Flüchtlingspolitik per se, "die in vielen Ländern abgelehnt wird".
Der Experte erkennt eine kritische Tendenz und mahnt: "Die EU muss auf die Einhaltung von Mindeststandards achten, damit keine Abwärtsspirale droht." Er hält es für sinnvoll, Zahlungen der EU an Mitgliedsstaaten an die Einhaltung der Grundwerte Europas zu koppeln.
"Die EU darf die Verantwortung, wenn sie beispielsweise mit Staaten wie Libyen kooperiert, ausserdem nicht einfach auslagern. Sie verkauft sonst ihren eigenen Anspruch an Menschenrechte", warnt Politikwissenschaftler Kleist.
Es geht um die Zukunft der EU
Reformen, etwa des Dublin-Abkommens, seien - wenn auch dringend notwendig – sehr schwierig. "Es handelt sich nicht nur um ein politisch umstrittenes Thema, sondern geht an den Kern dessen, was die EU als politische Gemeinschaft ausmacht", betont Experte Kleist.
Die Idee einer europäischen Asylbehörde, wie sie aktuell in der Kommission diskutiert werde, bringe ein grundsätzliches Problem mit sich:
"Wir sprechen über europäischen Schutz- und Aufenthaltsstatus, während es keine europäische Staatsbürgerschaft gibt. Das kreiert neue Ideen dessen, was Europa ausmacht und für die Bürger bedeutet", hebt Kleist hervor. Es gehe daher nicht nur um Flüchtlingspolitik, sondern um die Zukunft der EU überhaupt.
Die Abwehr-Aktion Italiens, die die gesamte europäische Staatengemeinschaft unter Druck setzt, bereitet auch der EU-Kommission Sorge.
"Wir können Entscheidungen nicht unbegrenzt aufschieben", mahnte Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans vor dem EU-Parlament.
Der EU-Gipfel sei eine gute Gelegenheit, politischen Willen, Entschlossenheit und Geschlossenheit zu zeigen.
Eine Absichtserklärung allein wird aber auch diesmal nicht reichen.
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