Rechtsruck in Polen: Im Eiltempo krempelt die nationalkonservative Regierung das Land um. Ist unser Nachbar noch ein Rechtsstaat?

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Das Verfassungsgericht wurde geschwächt, das neue umstrittene Mediengesetz gefeiert. Die EU betrachtet die Entwicklungen mit Sorge. Sei will nun prüfen, ob nationales Recht mit europäischem Recht vereinbar ist. Was sind mögliche Konsequenzen, wie verhält sich Deutschland? Fragen und Antworten.

Die Europäische Union (EU) ist über den Kurs der neuen polnischen Regierung äusserst besorgt. Das mit etwa 38,5 Millionen Einwohnern sechsgrösste Mitgliedsland rückt immer weiter nach rechts.

Offenbar wendet sich der deutsche Nachbar dabei auch immer mehr von rechtsstaatlichen Prinzipien ab. Zuerst erschwerte das polnische Parlament durch eine "Reform" die Arbeit des Verfassungsgerichts. Schliesslich brachte es im Eilverfahren ein umstrittenes Mediengesetz durch.

Die EU-Kommission will nun ein Verfahren einleiten, um mögliche Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit in dem östlichen Mitgliedsland zu untersuchen. Unter der Leitung von Jean-Claude Juncker wird am 13. Januar über die Lage in Polen beraten.

Was mögliche Konsequenzen sind, wie sich Deutschland verhält und ob Polen noch ein Rechtsstaat ist - hier sind Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Was hat die polnische Regierung entschieden und was ändert sich dadurch?

  • Das jüngste Mediengesetz wurde im Ausland und von liberalen Politikern im Inland scharf kritisiert. Sein Ergebnis: Künftig darf die Regierung die Chefs der öffentlich-rechtlichen Sender direkt ernennen oder abberufen. Das Gesetz hatte die konservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski angeregt. Sie ist bestrebt, die Medien zu zügeln oder wie Kritiker sagen, unter ihre Kontrolle zu bringen. Die PiS hat mit 234 Sitzen die absolute Mehrheit im Sejm, der ersten Kammer des Parlaments, die massgeblich für die Gesetzgebung ist. "Wer die Medien hat, hat die Macht", kommentierte Jaroslaw Kurski, Vize-Chefredakteur der linksliberalen Zeitung "Gazeta Wyborcza".
  • Zuvor zog die Reform des Verfassungsgerichts heftige Kritik nach sich. Für alle Entscheidungen des Gerichts ist künftig eine Zweidrittelmehrheit notwendig statt wie bisher eine einfache Mehrheit, bei wichtigen Entscheidungen müssen mindestens 13 der 15 Verfassungsrichter dabei sein, um ein Urteil fällen zu können. Bisher genügten neun Richter. Bedenklich: Zwei Drittel der Stimmen gelten meist als nicht realistisch. Kritiker wie das "Komitee zum Schutz der Demokratie" (KOD) meinen: Das Verfassungsgericht ist seiner Funktion als Kontrollinstanz der Regierung beraubt.

Was kann die EU machen?

Die EU-Kommission gilt als "Hüterin der EU-Verträge". Sie kann wirkungsvoll eingreifen.

Folgende Möglichkeiten hat die EU-Kommission:

  • VERFAHREN WEGEN VERLETZUNG DES EU-VERTRAGS: Das ist der gängige Weg, wenn die Kommission meint, dass EU-Recht nicht eingehalten wird. Gegen das Land wird ein dreistufiges Verfahren auf den Weg gebracht, das in letzter Konsequenz in einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) münden kann.
  • VERFAHREN NACH ARTIKEL 7 DES EU-VERTRAGS: Wenn das Mitglied nicht auf Änderungswünsche reagiert, droht ein Verfahren wegen des Verstosses gegen europäische Grundwerte. Schliesslich können Stimmrechte bei Ministerräten und EU-Gipfeln entzogen werden, sogar eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist nicht ausgeschlossen. Weil diese Sanktion so hart ist, kam sie bislang nicht zum Einsatz. Manche Politiker sprechen von einer diplomatischen "Atombombe".
  • VERFAHREN WEGEN GEFAHREN FÜR DIE RECHTSSTAATLICHKEIT: Es handelt sich ebenfalls um ein mehrstufiges Verfahren. Es ist eine Art Frühwarnmechanismus, der es der Kommission ermöglicht, gemeinsam mit dem betreffenden Land Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit zu beseitigen. Die Prozedur wurde 2014 eingeführt und bisher nicht genutzt.

Letzteres wird nach einer Debatte am 13. Januar erwartet. EU-Kommissar Günther Oettinger sagte im Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", es spreche "viel dafür, dass wir jetzt den Rechtsstaatsmechanismus aktivieren und Warschau unter Aufsicht stellen".

Genannter Mechanismus wurde erst 2014 wegen besorgniserregender Tendenzen in Ungarn eingeführt. Er sieht einen verstärkten Dialog mit einem Mitgliedsland vor.

Wie reagiert Deutschland?

Angesichts internationaler Kritik am Kurs der nationalkonservativen Regierung in Warschau verweist die Bundesregierung auf die Zuständigkeit der EU-Kommission.

Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Montag in Berlin, er wolle einzelne gesetzgeberische Massnahmen einer demokratisch gewählten Regierung nicht kommentieren. Wann immer aber die Frage aufkomme, ob nationales Recht mit europäischem Recht vereinbar sei, könne und müsse das auf europäischer Ebene überprüft werden.

Dass aussenpolitisch nichts passiert, ist Kalkül. "Der deutsche Botschafter in Warschau bemüht sich sehr, die Politik in Berlin davon zu überzeugen, kein böses Wort über Polen zu verlieren, weil dies kontraproduktiv sei.

Denn Kritik aus Deutschland könnte die PiS nutzen, um zu behaupten, Deutschland sei polenfeindlich eingestellt", erklärte Bartosz Wielinski, Politischer Korrespondent der "Gazeta Wyborcza" im Gespräch mit "tagesschau.de".

"Die einzigen deutschen Politiker, die ausserhalb der Reichweite des Botschafters sind, das sind die EU-Politiker Martin Schulz und Günther Oettinger - und das sind die deutschen Politiker, die sich deutlich äussern."

Der ehemalige Ministerpräsident Baden-Württembergs und aktuelle EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft Oettinger hatte im Interview mit der "F.A.S." angekündigt, sich dafür einsetzen zu wollen, dass der Rechtsstaatsmechanismus greift.

Kommt es zum Ernstfall, kann die Bundesregierung jedoch sehr wohl politischen Druck ausüben. Polen erhielt zuletzt knapp 14 Milliarden Euro mehr aus der EU-Kasse, als es einzahlte.

Die Nettozahler sind: Deutschland und Frankreich.

Ist Polen noch ein Rechtsstaat?

Ja, doch es entfernt sich schnell weg von europäischen Grundwerten. "Wir wollen lediglich unseren Staat von einigen Krankheiten heilen, damit er wieder genesen kann", sagte Aussenminister Witold Waszcykowski der "Bild"-Zeitung über das Mediengesetz.

Rhetorisch ist Polen damit ganz weit weg. Entscheidend ist, was die Prüfer sagen.

Grundlagen ihrer Einschätzung sind: Verstösse gegen gemeinsame Grundwerte, Probleme bei der Achtung der Menschenwürde sowie Einschränkungen in den Bereichen Freiheit oder Demokratie.

Mindestens zwei Kriterien dürften erfüllt sein. (far/mit Agenturmaterial der dpa)

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