Die neue EU-Chefin Ursula von der Leyen steht in den Startlöchern. Welche Herausforderungen kommen auf sie zu? Läuft sie Gefahr, sich der extremen Rechten anzubiedern? Politikwissenschaftler Dr. Matthias Freise spricht im Interview über das Chaospotential des EU-Parlaments, Fallstricke der Präsidentschaft und Joker in der europäischen Verhandlungsdiplomatie.
Die EU hat bald eine neue Kommissionspräsidentin.
Dr. Matthias Freise: Die Kommission gilt als Motor der Integration. Die Frage, die sich Ursula von der Leyen stellen muss, lautet also: Wo stottert der Motor gerade? Antworten findet sie bei der Asylpolitik, Haushaltsdisziplin und Rechtsstaatlichkeit.
Zu Beginn muss von der Leyen ein Europa ohne Grossbritannien schaffen. Dabei war das Land stets Gegenpol zum rheinischen Kapitalismus; die Briten haben immer eine andere wirtschaftliche Position gehabt und ein anderes Verständnis davon, wie Integration funktionieren soll. Damit waren sie wichtige Ansprechpartner für andere Länder. Von der Leyen muss nach dem Austritt Fragen der Finanz- und Sozialpolitik lösen.
Eine zentrale Rolle wird die Neugestaltung des vergemeinschafteten Feldes der Asylpolitik spielen, die offenkundig gescheitert ist. Gewichtig ist auch die Frage, ob von der Leyen die EU als aussenpolitischen Akteur aufrichten kann. Aktuell ist sie ein ökonomischer Riese, aber ein sicherheitspolitischer Zwerg. Dass der Klimapolitik besondere Bedeutung zukommt, hat von der Leyen schon angekündigt.
Bleibt die Frage: Was ist durchsetzbar, ohne dass es zu massiven Widerständen kommt? Hier wird es für sie schwieriger als für ihre Vorgänger.
"Die EU wird zu einem noch grösseren Basar und Viehmarkt"
Denn: Im Juli war ihre Parlamentsmehrheit hauchdünn. Welche Fallstricke birgt das?
Wir haben nach der Europawahl erstmalig die Situation, dass die EVP und die Sozialdemokraten keine gemeinsame Mehrheit mehr haben. Diese grosse europäische Dauerkoalition muss erweitert werden, wodurch es schwieriger sein wird, in einem Konzert aus 27 Staaten überhaupt Mehrheiten zu organisieren. Von der Leyen muss sehr genau ausloten, welche Politikvorschläge noch mehrheitsfähig sind.
Der erste Fallstrick wird der Haushalt für 2021 sein. Weil die Briten als einer der grössten Nettozahler ausscheiden, gibt es nur zwei Lösungen: Entweder andere Länder zahlen mehr, oder Gelder müssen in einigen Politikfeldern gekürzt werden.
Das wiederum geht nur bei der Landwirtschaftspolitik und der europäischen Strukturhilfepolitik – grosser Streit ist also vorprogrammiert. Von der Leyen wird Paketlösungen suchen müssen und die EU wird zu einem noch grösseren Basar und Viehmarkt.
Die Französin Sylvia Goulard, die ein aufgerüstetes Binnenmarktressort bekommen sollte, fiel beim Parlament durch. Was bedeutet das für von der Leyens Start?
Das Parlament hat schon in der Vergangenheit Kommissare abgelehnt, aber der französische Vorschlag war nicht clever. Das Parlament präsentiert dadurch grösseres Selbstbewusstsein und zeigt gleichzeitig eine gewisse Revanche gegen Macron, der sich geweigert hat, das Spitzenkandidatensystem umzusetzen.
Macron hat sich überschätzt und hat vom Parlament gezeigt bekommen, wo der Hammer hängt. Er ist sauer, wird aber jemand anderen nominieren müssen. Es ist unwahrscheinlich, dass von der Leyen die gesamte Kommission aufknöpft und alles umstellt. Insofern wird das Binnenmarktressort bei Frankreich bleiben, wodurch es sich grossen Einfluss sichert.
Lässt sich daran ablesen, wie schwer es von der Leyen fällt, das Europaparlament treffsicher einzuschätzen? Das Parlament gab Warnschüsse im Nominierungsprozess ab, stoppte den Ungar Laszlo Trocsanyi und die Rumänin Rovana Plumb.
Ursula von der Leyen hat als langjährige deutsche Ministerin viel Erfahrung im europäischen System und war Ratsmitglied in verschiedenen Funktionen. Als ehemalige Sozial-, Familien- und Verteidigungsministerin kennt sie den Brüsseler Betrieb gut.
Ihr wird jetzt aber gezeigt, dass das europäische Parlament seit den Verträgen von Lissabon immer weiter aufgewertet worden ist und natürlich muss sie erst lernen, was sie erreichen und dem Parlament anbieten kann.
Wie gross ist das Chaospotential bei diesem Lernprozess?
Das hängt davon ab, wie sich das Parlament zusammenfindet. Sozialdemokraten und EVP haben traditionell zusammengearbeitet, müssen sich aber jetzt neue Bündnispartner suchen. Dadurch werden die Forderungen diverser.
Will das EU-Parlament eine Rolle spielen, muss es ein Mindestmass an Einigkeit geben. Bei dem Spitzenkandidaten-Problem ist das Parlament in eine selbstgestellte Falle getreten. Es hat vor der Wahl gesagt, es unterstütze nur einen Spitzenkandidaten, war aber dann nicht in der Lage, sich auf einen zu einigen.
"In der EU darf kein Staat dauerhaft auf der Verliererseite stehen"
Kritiker werfen von der Leyen vor, sie biedere sich der extremen Rechten an. Ein Grund dafür war, dass die Asylpolitik fortan unter dem Label "Schutz unseres europäischen Lebensstils" firmiert. Wie gross ist diese Gefahr?
Anbiedern ist nicht der richtige Begriff. Ursula von der Leyen muss Mehrheiten organisieren. In der EU darf kein Staat dauerhaft auf der Verliererseite stehen. Dass am Ende alle irgendwie gewinnen müssen, ist ein Urprinzip der EU.
Wenn es in einigen Staaten starke populistische Bewegungen gibt, die Zuzug und Migration ablehnen, dann wird von der Leyen keine europäische Union organisieren können, die sich permanent gegen diese Staaten stellt. In welcher Form sie Mitgliedsstaaten einbindet, darunter beispielsweise auch Länder wie Polen, ist Ausdruck ihrer Verhandlungsdiplomatie.
Hat sie dabei einen Verhandlungshebel?
Der Joker ist die Strukturpolitik. Die Union versucht die europäische Kohäsion herzustellen, wobei keine Region dramatisch abgehängt ist. Die letzten Jahre zeigen, dass die wirtschaftliche Entwicklung der mittel- und osteuropäischen Staaten ohne die EU-Förderpolitik nicht denkbar gewesen wäre.
Infrastruktur, Strassen, Breitbandausbau, Förderung kleiner- und mittelständischer Unternehmen – all das hängt in diesen Ländern stark von der EU ab. Von der Leyen kann mit den Muskeln spielen und mit Einschnitten in der Strukturpolitik drohen. Das kommt selbst bei den europakritischsten Osteuropäern an.
Zurück zu Frankreich: Goulard war Macrons Kandidatin. Er gibt von der Leyen die Schuld, dass sie durchgefallen ist und spricht von "politischem Spiel". Bleiben diese beiden Länder in Europa künftig auch die Zugpferde?
Die deutsch-französische Zusammenarbeit in Europafragen ist ausgezeichnet, aber: Zugpferde sind die Länder längst nicht mehr so wie einst. Als die EU noch kleiner war, galt lange, dass das deutsch-französische Tandem Tritt haben muss, um die EU voranzubringen. Eine so enge Kooperation haben wir aktuell nicht.
In vielen Fragen, insbesondere in ökonomischen, sind sich Frankreich und Deutschland nicht einig. Macron will die EU in vielerlei Hinsicht stärker machen, zu einer Art Investitionsorganisation. Sie soll in die soziale Komponente des Binnenmarkts investieren und sich in der Schuldenfrage flexibler zeigen.
Die Deutschen hingegen setzen auf eine diszipliniertere Politik der Mitgliedsstaaten. Zwar gibt es in Europa keine engere Politik Deutschlands mit einem anderen Land, aber es bleibt die Frage: Können sich Deutschland und Frankreich darauf verständigen, wo die Idee des europäischen Projekts einmal hingesteuert werden soll?
"Gefährlich wäre eine extreme Lagerbildung"
Wer füllt sonst das Vakuum?
Eine befriedigende Antwort gibt es nicht. Fest steht nur, dass die EU zu einer noch riesigeren Aushandlungsmaschinerie wird.
Gefährlich wäre eine extreme Lagerbildung, also die dauerhafte Etablierung eines populistischen Lagers. Schon in der Flüchtlingspolitik haben wir gesehen, wozu verhärtete Fronten führen. Die EU ist eigentlich zuständig, kann aber aufgrund der Verhärtungen Politik nicht umsetzen. Solange das nur in wenigen Politikfeldern der Fall ist, muss uns um die EU nicht bange sein, aber auch dann bleibt die Frage: Wer kann die EU künftig steuern?
Deutschlands Rolle wird nach dem Austritt Grossbritanniens an Bedeutung gewinnen. Die EU ist aber nicht nach der Grösse ihrer Mitgliedsstaaten ausgerichtet, sondern nach der Verhandlungsfähigkeit der Staats- und Regierungschefs. So können auch kleine Länder wie Luxemburg eine wichtige Rolle spielen.
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