Die Europäische Union macht in der Flüchtlingsfrage weitreichende finanzielle Zugeständnisse an die türkische Regierung. Dabei entfernt sich Ankara immer weiter von der europäischen Wertegemeinschaft. Warum die EU gar nicht anders kann – und welche Frage für die Türkei alles überlagert.
Ist das die Lösung? Beim Sondergipfel in Brüssel beschliessen die Europäische Union (EU) und die Türkei einen Aktionsplan, um der Flüchtlingskrise Herr zu werden. Drei Milliarden Euro Unterstützung wollen die Europäer der türkischen Regierung Recep Tayyip Erdogans dafür zur Verfügung stellen.
Der Auftrag an die Türkei: Es sollen weniger Flüchtlinge nach Europa kommen. Trotz der Dringlichkeit der Flüchtlingsfrage, sehen nicht nur Menschenrechter den Deal mit Erdogan und dessen AKP kritisch - einem Präsidenten, der sich je nach Gusto um eben jene Freiheitsrechte schert. Vor allem mit der Presse- und der Meinungsfreiheit nimmt es der 61-Jährige nicht immer so genau.
Türkei kann helfen den Druck auf Europa zu mindern
Dürfen Bundeskanzlerin
"Man muss die Türkei einbeziehen, um zu sehen, ob sie dabei helfen kann, den Druck auf Europa zu mindern. Zu diesem Versuch gibt es keine Alternative", sagt der Islamkundler und Nahost-Experte Dr. Udo Steinbach im Gespräch mit unserer Redaktion. Dabei wisse aktuell noch niemand, meint er, "wer die drei Milliarden Euro überhaupt finanzieren soll".
Türkei ist weiter von Europa entfernt als im vergangenen Jahrzehnt
Steinbach mahnt zudem: "Die Flüchtlingsfrage mit der weiteren Annäherung an die EU zu verbinden, ist sensibel. Da liegt ein grosser Fehler, den die EU macht, in einer Situation, in der die Türkei weiter von Europa entfernt ist als im vergangenen Jahrzehnt."
Erstens, sei Erdogan nicht daran interessiert, sich in der Europäischen Union zu den Bedingungen zu integrieren, die die EU stellt, meint Steinbach. "Zweitens, haben die Massnahmen gegen die Presse und gegen die Justiz die Türkei weiter von der Wertegemeinschaft Europa entfernt", sagt er. "Das hat die EU jüngst in einem Bericht selbst angemahnt." Die Flüchtlingskrise macht die Zusammenarbeit mit der Regierung in Ankara aber offenbar unabdingbar. Millionen Asylsuchende - meist aus Syrien - wählen den Weg über die Türkei in Richtung Europa.
Keine militärische Zusammenarbeit gegen den IS
An eine militärische Zusammenarbeit mit den Türken im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) glaubt Steinbach indes nicht. Es ist ein Szenario, dass die EU noch mehr zum Bittsteller werden liesse als sie es ohnehin schon ist.
"Die Türkei wäre sofort bereit dazu, gegen den IS mobil zu machen", sagt er zwar, meint aber: "Ihr geht es in ihrer Syrien-Politik darum, Machthaber Baschar al-Assad wegzubekommen. Darauf lässt sich die EU nicht ein." Angesichts Flüchtlingskrise und Terrorgefahr würde dabei eine wesentliche Frage überdeckt, meint der Erdogan-Kenner: "Die Frage, wohin sich die Türkei gerade entwickelt." Der türkische Präsident wolle in seinem Einflussbereich offensichtlich nicht weiter nach Europa, aber ebenso wenig in den Nahen Osten. Es sei nicht mal klar, ob er künftig die westliche Politik unterstütze oder "nach wie vor in der einen oder anderen Weise mit dem IS" zusammenarbeite. "Die Türkei ist in einem Zustand, Englisch bezeichnet, 'in the middle of nowhere', sprich, mitten im Nirgendwo", sagt Steinbach.
Erdogan und der Ministerpräsident
Hinzukäme, dass Ministerpräsident Ahmet Davutoglu de facto seiner politischen Macht beraubt sei. "Erdogan tut geradeso als sei er der Ministerpräsident und damit der führende türkische Politiker. Das ist verfassungsrechtlich höchst problematisch", erklärt er. "Die Europäer haben deshalb gar keinen direkten Ansprechpartner, mit dem sie sichere und verlässliche Politik machen könnten."
Der Besuch der Kanzlerin vor wenigen Wochen bei Erdogan zeigte jedoch, wem sich die Europäer in letzter Instanz anbiedern. "Die Türkei ist nun mal die AKP und die Türkei ist nun mal Erdogan", meint Steinbach. Er sagt es besorgt: "Diese Türkei ist weiter weg von Europa als 2005, als man mit den Verhandlungen begonnen hat." Die EU handelt trotzdem Deals mit ihr aus. Sie kann nicht anders.
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