Vereinte Nationen, CSU, Pro Asyl: Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei zur Rückführung von Flüchtlingen stösst in verschiedenen Lagern auf Kritik. Verkauft Europa seine eigenen Werte für die Lösung der Flüchtlingskrise?

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Seit Monaten ringt die Europäische Union um eine Lösung in der Flüchtlingskrise. Nun ist es auf dem neuerlichen Gipfel in Brüssel zu einem Abkommen zwischen der EU und der Türkei gekommen.

Nach der neuen Regelung soll sich das Land dazu verpflichten, illegal auf die griechischen Inseln eingereiste Flüchtlinge zurückzunehmen. Für jeden Zurückgewiesenen wollen die Europäer einen Flüchtling – allerdings nur syrische – legal aus der Türkei aufnehmen.

Von einem Kontingent von 72.000 ist derzeit die Rede. Die Erleichterung ist auch in der Bundesregierung gross, dass sich endlich eine Lösung abzeichnet. Zugleich wird das Abkommen scharf kritisiert. Welche Chancen und Risiken bietet der Deal mit der Türkei? Wie könnte Europa profitieren, wo lauern Gefahren?

Hoffnung der EU: Flüchtlingszahlen spürbar senken

Über allem steht die grosse Hoffnung auf das Ende der Flüchtlingskrise. Die EU-Staaten wollen durch die Schaffung gesetzlich geregelter Einreisemöglichkeiten den Anreiz für illegale Migration senken und den Schlepperbanden langfristig ihre Geschäftsgrundlage nehmen.

So sollen die Flüchtlingszahlen – zumindest in der Ägäis – endlich spürbar verringert werden. Eine Vereinbarung mit der Türkei käme aber auch einem Ende von Merkels Politik der Willkommenskultur gleich.

Einen weiteren humanitären Akt wie im Herbst 2015 wird es nicht noch einmal geben: Nun sollen die Türken Deutschland und der EU das Problem abnehmen. Dafür erhalten sie Geld und Privilegien, beispielsweise Visa-Erleichterungen. Auch die lange ins Stocken geratenen EU-Beitrittsverhandlungen könnten wieder neuen Wind erhalten.

Menschenrechtskommissar: Pläne sind "illegal"

Aber missachtet das Abkommen mit der Türkei womöglich die Rechte von Flüchtlingen? Künftig sollen in Griechenland Schnellverfahren darüber entscheiden, ob Menschen ein Recht auf Asyl haben. Das krisengeschüttelte Land ist personell und infrastrukturell allerdings gar nicht darauf vorbereitet.

"Ich bin tief besorgt über jede Vereinbarung, die das pauschale Zurückschicken von einem Land in ein anderes beinhaltet, ohne Anwendung des Asylrechts und internationalen Rechts", erklärte UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi.

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Muiznieks, bezeichnete die Pläne sogar als "schlicht illegal". Ein Blankoschein für die Abweisung von illegalen Einwanderern ohne gründliche und objektive Prüfung des Einzelfalls widerspreche der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Die Organisation "Pro Asyl" nannte das geplante Abkommen einen "schmutzigen Deal" und fordert, dass "Schutzsuchende in der Ägäis nicht zum blossen Objekt einer europäischen Rückführungsmaschinerie werden."

Es besteht die Sorge, dass sich die EU von ihrem eigenen Wertegerüst Stück für Stück verabschiedet.

Türkei ein "sicherer Drittstaat"?

Zudem müsste Griechenland die Türkei als sogenanntes "sicheres Drittland" anerkennen. Nur dann wäre nach EU-Asylrecht eine Abschiebung erlaubt. Laut "Pro Asyl" erfülle die Türkei aktuell die notwendigen Voraussetzungen nicht.

Schnell bemühte sich Angela Merkel klar zu stellen, dass die von der Türkei angestrebte Visa-Erleichterung "an eine Vielzahl von Bedingungen geknüpft" sei. Dazu zähle auch der Schutz der Flüchtlinge nach internationalen Standards.

Nur driftet das Land unter der Führung von Präsident Recep Tayyip Erdogan nach Einschätzung vieler Beobachter immer weiter Richtung Autokratie. Die Regierung geht scharf gegen unabhängige Medien, die kurdische Minderheit und andere Kritiker vor. Wird die EU bei Missständen künftig eher wegschauen, weil es die Türken als Partner braucht?

"Es besteht schon die Gefahr, dass bei der Durchsetzung eigener Werte nun andere Prioritäten gesetzt werden", sagt Katrin Böttger vom Institut für Europäische Politik im Gespräch mit unserer Redaktion. Dies sei in Deutschland an der kürzlich verschobenen Bundestags-Debatte zur Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern zu sehen. Die Regierung wolle es unbedingt vermeiden, so Böttger, "in der aktuellen Flüchtlingskrise die Türkei zu verärgern".

Expertin: Chancen für Merkel

Der deutschen Kanzlerin könne das geplante Abkommen mit der Türkei aber durchaus Rückenwind verschaffen, meint Politologin Böttger. "Ich sehe den Deal als Chance für Angela Merkel, da sie die EU-Partner mitnimmt und auf eine dauerhafte Lösung der Krise hinarbeitet. Das stärkt sie."

Mit der Schliessung von Grenzen sei die Flüchtlingskrise jedenfalls nicht zu beenden. "Auch wenn Risiken bestehen, musste jetzt einfach etwas unternommen werden", betont Böttger.

Kritik kam dagegen wieder von der CSU, die die geplante Visafreiheit für türkische Staatsbürger vehement ablehnt. Auch führende EU-Politiker sind skeptisch. "Natürlich müssen wir mit der Türkei zusammenarbeiten", sagte die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) am Donnerstag im ZDF-Morgenmagazin. "Aber nicht um jeden Preis."

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