Sollte unter die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ein Schlussstrich gezogen werden? Auf diese Frage gibt es jetzt ein klares Ja des zuständigen EU-Kommissars. Zumindest aus der FDP im Bundestag bekommt er dafür Applaus.
Die Verhandlungen über eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU sollten nach Ansicht des zuständigen EU-Kommissars Johannes Hahn offiziell aufgegeben werden. "Ich finde, langfristig wäre es ehrlicher für die Türkei und die EU, neue Wege zu gehen und die Beitrittsgespräche zu beenden", sagte Hahn der "Welt" (Dienstag). Das Festhalten an den seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen habe bislang den Weg für eine "realistische, strategische Partnerschaft" versperrt.
Der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Alexander Graf Lambsdorff, forderte die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Äusserungen Hahns auf, ebenfalls ein Ende der Beitrittsgespräche zu fordern. "Anstatt die Verhandlungen nur vorübergehend einzufrieren und die Vorbeitrittshilfen anzupassen, müssen die Mitgliedsstaaten im Licht der politischen Realität endlich Konsequenzen ziehen", kommentierte der Oppositionspolitiker. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan verkenne die politische Realität, indem er weiter an einem EU-Beitritt seines Landes festhalte.
EU äussert sich besorgt
Graf Lambsdorff spielte mit seinen Äusserungen darauf an, dass die Entscheidung über den weiteren Verlauf der Beitrittsverhandlungen bei den Regierungen der Mitgliedstaaten liegt. Unter ihnen war bis zuletzt keine Mehrheit für einen offiziellen Abbruch der Gespräche absehbar. Bei Beratungen zum Thema wurde im Juni nur festgehalten, dass die Verhandlungen praktisch zum Stillstand gekommen sind und nur grundlegende Änderungen in der Türkei Fortschritte ermöglichen könnten.
Die EU-Staaten konstatierten in diesem Zusammenhang zutiefst besorgniserregende Rückschritte bei Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Meinungsfreiheit. Das Vorgehen gegen Journalisten, Akademiker, Menschenrechtler, Oppositionspolitiker und Nutzer sozialer Medien könne nicht geduldet werden, hiess es zudem in einer im Juni beschlossenen Erklärung.
Als ein Grund für das Festhalten am EU-Kandidatenstatus der Türkei gilt die Migrationskrise. Der Entzug des Status könnte aus Sicht vieler Staaten den Flüchtlingspakt mit dem Land gefährden. Er gilt als ein Grund dafür, dass derzeit deutlich weniger Migranten nach Europa kommen als noch 2015.
Der Pakt sieht vor, dass die EU alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Im Gegenzug nehmen EU-Staaten der Türkei schutzbedürftige Flüchtlinge aus Syrien ab und finanzieren Hilfen für in der Türkei lebende Flüchtlinge. Das Land hat bislang insgesamt knapp 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen.
Hahn unterstützt Kurz
Als mögliche Alternative zu den EU-Beitrittsgesprächen nannte Hahn im Interview der "Welt" Gespräche über eine Ausweitung der Zollunion mit der Türkei. Dies hatten allerdings im Juni die EU-Staaten vorläufig ausgeschlossen.
Mit seiner offenen Positionierung unterstützt Hahn seinen Landsmann Sebastian Kurz. Der österreichische Bundeskanzler gilt als der prominenteste Fürsprecher eines offiziellen Abbruchs der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Er hat im Kreis der Staats- und Regierungschefs bislang aber kaum Unterstützer. Ein einvernehmlicher Abbruch der Beitrittsgespräche wird von der Türkei abgelehnt. Das Land fordert vielmehr, die brachliegenden Verhandlungen nicht nur fortzuführen, sondern sogar auszuweiten. © dpa
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