Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft fällt auf einen historischen Zeitpunkt. Gelingt es, inmitten der grössten Rezession in der Geschichte der EU, zu gemeinsamen Zielen zu kommen? Sollbruchstellen gibt es viele.
Dass der deutsche Vorsitz der EU-Ratspräsidentschaft unter sanften Vorzeichen stattfinden wird, zeigten bereits die Vorbereitungen. Am Montagabend trafen sich die Spitzen der Koalitionsparteien im Kanzleramt zum Schlussakkord, um noch einmal über die Ratspräsidentschaft von Juli bis Dezember zu sprechen. Zwei Stunden später war der ruhige, weitgehend unstrittige Abend, schon wieder vorbei.
Eine anschliessend verschickte Mitteilung war maximal nichtssagend, was deshalb schon wieder etwas aussagte, weil die sonst durch Reibereien glänzenden Koalitionspartner offenbar grössere Friktionen vermeiden konnten. Deutschland werde sich mit "ganzer Kraft" dafür einsetzen, die "schicksalhafte Herausforderung" durch die Corona-Pandemie im Rahmen seiner Ratspräsidentschaft zu bewältigen, hiess es da. Man wolle sich für ein "stärkeres", "innovativeres", "gerechteres" und "nachhaltigeres" Europa einsetzen. So klingt Einmütigkeit.
Deutschlands Motto: "Gemeinsam Europa wieder stark machen"
"Gemeinsam Europa wieder stark machen", unter dieses Motto will
Dass Deutschland ausgerechnet in dieser historischen Situation als "ehrlicher Makler" auftreten und nationale Interessen zurückstellen soll, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Grösster Streitpunkt: der Wiederaufbaufonds
Denn ausgerechnet der grösste Streitpunkt auf dem EU-Parkett, der 750 Milliarden Euro teure Corona-Wiederaufbauprogramm, steht in einigen Ländern unter Klüngelverdacht: Er sei ein Ergebnis der deutsch-französischen Lokomotive, der nur noch auf den Vollzug aller EU-Länder wartet, die freilich ihre Kassen öffnen müssen. Das Konzept sieht vor, die am schwersten betroffenen Länder, allen voran Spanien und Italien, über einen schuldenfinanzierten Konjunktur- und Investitionsplan, der bis zum Jahr 2058 aus dem EU-Haushalt abbezahlt werden soll, zu stützen. Zusammen mit dem EU-Haushaltsrahmen sieht das Programm von 2021 bis 2027 sogar einen Umfang von 1,1 Billionen Euro vor.
Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden, die selbsternannten "sparsamen Vier", fürchten eine "Schuldenunion durch die Hintertür" - zumindest formal. Faktisch , so vermutet man auf EU-Ebene, wo man über die Länder als die "geizigen Vier" spottet, entspringt die Blockadehaltung einem gewissen Frust über den Führungsanspruch von Deutschland und Frankreich. Dass die genannten Länder gleichzeitig einen zweiseitigen, in weiten Teilen schlampig formulierten Gegenentwurf vorgelegt haben, sieht man daher als Einladung zu Verhandlungen, die am Ende in einem Kompromiss enden dürften, aber durchaus hart werden könnten. Im ersten Anlauf, per Videoschalte am 19. Juni, konnten sich die 27 Staats- und Regierungschefs jedenfalls noch nicht einigen. Mitte Juli, dann wieder bei einem "klassischen" EU-Gipfel, zu dem die Teilnehmer leibhaftig nach Brüssel reisen, soll nun der Durchbruch gelingen.
Die Zeit beim Brexit drängt
Eine weitere Baustelle ist der Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union. Wenn bis zum 31. Oktober kein Abkommen mit Grossbritannien geschlossen ist, droht zum Jahresende ein ungeregelter Austritt – und ein Crash mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft. Derzeit gehört Grossbritannien noch zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion. Um die weitere Beziehung innerhalb dieser Übergangsfrist zu klären, muss eine Einigung spätestens im Herbst erzielt werden, damit ein Abkommen binnen Jahresfrist ratifiziert werden kann. Vier Verhandlungsrunden seit dem britischen EU-Austritt Ende Januar sind bislang gescheitert. Dass die Corona-Pandemie auf die Wirtschaft drückt, und keinen zweiten Schock gebrauchen kann, könnte zum Durchbruch verhelfen.
Und dann wäre da noch das Thema Klimapolitik. Eigentlich hätte Deutschland den ökologischen Umbau der europäischen Wirtschaft in das Zentrum der Ratspräsidentschaft rücken wollen. Aber das war einmal. Wegen Corona mussten die Pläne umgestellt werden, von der Tagesordnung ist das Thema allerdings nicht gerutscht. Im Idealfall will man die beiden Themen Corona und Klima koppeln.
Von der Leyens "Green New Deal" hat keine Priorität mehr
Klar ist aber, dass der "Green New Deal", den die neue Kommissionschefin Ursula von der Leyen zwei Wochen nach ihrem Amtsantritt zu ihrem politischen Vermächtnis erklärt hatte, jetzt eher in einem "Green New Minimalkompromiss" münden wird. Zu gross ist die Blockadehaltung in Ländern wie Polen, wo man die Klimapolitik auf dem Altar der Coronabekämpfung opfern, oder sie zumindest auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben will.
Doch die Rettung des Weltklimas lässt sich nur bedingt aufschieben. Ambitionierte Klimaziele sind deshalb ein weiterer Schwerpunkt der EU-Ratspräsidentschaft. In Berlin heisst es, der Green New Deal solle als Leitlinie für die Verteilung von Hilfsgelder dienen. Man wolle wie beim deutschen Konjunkturpaket sicherstellen, dass die Wirtschaft klimafreundlicher und nachhaltiger aus der Krise komme.
Corona soll in dieser Erzählung nur der Katalysator für einen umweltgerechten Neustart der Wirtschaft sein. "Ich glaube, dass es ein Riesenschritt nach vorne wäre, wenn die EU statt 40 Prozent 50 bis 55 Prozent einspart, und wenn wir das Ziel bekräftigen, dass wir 2050 treibhausgasneutral sein wollen", so Umweltministerin Svenja Schulze (SPD).
Steuern für Digitalunternehmen und Asylthema
Neben den drei Topthemen Corona, Klima und Brexit gibt es noch weitere, wenn auch kleinere Blöcke. Die USA haben angekündigt, rund 9.500 Soldaten aus Europa abzuziehen und damit die europäische Sicherheitsarchitektur zu verschieben. Dass eine bislang unbekannte Zahl von Soldaten nach Polen verschoben werden soll, wird man in Berlin mit einigem Befremden zur Kenntnis nehmen. Auch über eine gerechte Besteuerung von Digitalunternehmen wie Apple, Amazon oder Facebook wird zu sprechen sein. Und dann wäre da noch das Asylthema: Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte angekündigt, er wolle die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu einem Schwerpunkt der halbjährigen Ratspräsidentschaft machen.
Für Angela Merkel ist es nach 2007 bereits der zweite EU-Ratsvorsitz. Selten war eine Ratsperiode allerdings so wichtig wie in der tiefsten Wirtschaftskrise seit Bestehen der Europäischen Union. Entsprechend gross ist die Fallhöhe. Oder anders gefragt: Wenn die Deutschen jetzt nichts voranbringen, wer dann?
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.