Das Verhältnis der Schweiz zur EU ist angespannt. Wie aber sieht die EU die Schweiz? Eine Auslegeordnung.

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Am 14. Februar feiert die Welt grenzüberschreitend den Valentinstag, den Tag der Liebe. Und am Valentinstag dieses Jahres habe ich dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Herrn Jean-Claude Juncker, eine Frage zur Beziehung mit der Schweiz gestellt. Hier seine Antwort:

Jean-Claude Juncker ist ein gefühlsbetonter Mensch. Er kann sich aufrichtig freuen. Und er kann auch richtig beleidigt sein. Wie am vergangenen Valentinstag.

Doch Jean-Claude Junckers Aussage sagt uns nicht nur etwas über die Tiefe seiner Persönlichkeit. Sie zeigt, wie schwierig das Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz derzeit ist. Und eben nicht nur wegen der Vorbehalte der SVP, des drohenden Verlusts an Selbstbestimmung. Nicht nur wegen des Misstrauens der Schweizer Gewerkschaften und der SP, der Verlustängste mit Blick auf den Lohnschutz. Sondern auch, weil die EU uns mit zunehmendem Misstrauen begegnet.

Juncker beklagt leere Versprechen

Konkret geht es dieser Tage um das Rahmenabkommen. Ein Abkommen, das bestehenden bilateralen Verträgen einen institutionellen Rahmen verpassen soll. Ein Abkommen, das die Gemüter erhitzt.

Bereits seit zehn Jahren fordert die EU von der Schweiz den Abschluss eines solches Rahmenabkommens. Offiziell sagt der Bundesrat: Ein Rahmenabkommen wäre auch im Interesse der Schweiz, es würde die Rechtssicherheit auch für uns erhöhen. Und so wird seit 2014 verhandelt. Doch eine Einigung scheint heute, im August 2018, ferner denn je.

Um auf Jean-Claude Juncker zurückzukommen: Er fühlt sich vom Schweizer Bundesrat hingehalten. Dieser habe Versprechen gemacht, das Rahmenabkommen bis zu diesem und jenem Datum abzuschliessen. Leere Versprechen. Eine Darstellung, die vom Bundesrat bestritten wird. Vom Bundesrat, der bei sich zu Hause im europapolitischen Kreuzfeuer steht.

Nachfolgend einige grundsätzliche Gedanken zum Misstrauen und zu den Missverständnissen zwischen der EU und der Schweiz, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Was folgt, fusst auf meinen ganz persönlichen Beobachtungen als Korrespondent seit vier Jahren in Brüssel.

Wenn Präsident Jean-Claude Juncker mit China verhandelt, dann mit Präsident Xi Jinping, und die USA sind für ihn Präsident Donald Trump. Und die Schweiz? Seit seinem Amtsantritt 2014 hat Herr Juncker die Bundespräsidenten und -präsidentinnen kommen und gehen sehen: Burkhalter, Sommaruga, Schneider-Ammann, Leuthard, Berset. Im kommenden Jahr wird er zum Abschluss und Höhepunkt seiner Amtszeit auch noch Herrn Ueli Maurer kennenlernen.

Als Schweizer Journalist in Brüssel habe ich ab und zu das Vergnügen, einem sogenannten Hintergrundgespräch mit einem der sieben Bundesräte beizuwohnen. Ohne Kamera, ohne Mikrofon, im Vertrauen. Und da fällt immer wieder auf: Es gibt in der Schweizer Regierung nicht eine Europapolitik, es gibt sieben Europapolitiken. Strategische und verhandlungstaktische Fragen werden von Bundesrat zu Bundesrätin ganz unterschiedlich eingeschätzt, längst nicht nur der Parteilogik, sondern auch persönlichen Befindlichkeiten folgend.

Die Unstimmigkeiten werden zwar heute weniger offen nach aussen getragen als auch schon. Aber Tatsache bleibt: Anders als die meisten Länder der Welt, haben wir keinen Regierungschef.

Damit sind wir innenpolitisch gut gefahren. Die Funktionsweise unserer Regierung ist Teil unserer Konkordanz-Demokratie. Sie ist für viele Schweizerinnen und Schweizer nicht wegzudenken.

Kein Verlass auf direkte Demokratie

Doch aussenpolitisch und europapolitisch stellt uns dieses System immer wieder vor Schwierigkeiten. Die Schweiz wird in Brüssel nicht als verlässlicher Verhandlungspartner wahrgenommen. Natürlich auch wegen unserer direkten Demokratie.

Kaum eine politische Eigenheit liegt den Schweizern mehr am Herzen. Volksinitiative und Referendum sind für die Schweizer ein „Bottom-up“-Korrektiv, von unten nach oben. Die Bürger, unten, zwingen die oben, die Politiker, bisweilen zur Kurskorrektur. Und sie haben die Schweiz von der Mitgliedschaft im EWR und in der EU ferngehalten.

EU wurde von Chefs für Bürger geplant

Die EU aber ist nach dem Zweiten Weltkrieg von Winston Churchill und anderen Gründervätern „top down“ skizziert worden: von den Chefs oben ausgedacht für die Bürger unten. Das mächtigste Organ der EU ist faktisch der Europäische Rat mit den 28 Staats- und Regierungschefs. Die sind alle demokratisch gewählt, doch einen direktdemokratischen Geist sucht man in der EU vergebens.

Wenn die direkte Demokratie in einem EU-Staat dann doch einmal zum Zuge kommt, dann nicht selten als „Top-down“-Instrument. Bestes Beispiel: der Brexit, der Entscheid der Briten, aus der EU auszutreten.

Nicht ein Initiativkomitee hat diesen Entscheid angestossen. Es war David Cameron, der britische Regierungschef, der die Briten nach ihrer Meinung zur EU-Mitgliedschaft befragen liess. Um sich mit einem Ja zur EU – daran glaubte er – die Macht in der eigenen Partei zu sichern.

Für die EU ist das Brexit-Votum natürlich ein Trauma. Der Ruf der direkten Demokratie ist dadurch nicht besser geworden. Im Gegenteil.

Beziehung im ständigen Stresstest

Und die Schweizer Politik wird als eine endlose Abfolge von Initiativen und Referenden gesehen. Masseneinwanderungs-Initiative, Waffenrechts-Referendum, Begrenzungs-Initiative – um nur drei von vielen zu nennen. Für die EU ist die Beziehung zur Schweiz eine Beziehung im ständigen Stresstest.

Umgekehrt fehlt vielen Schweizern das Verständnis dafür, wer oder was diese EU eigentlich ist. Die EU ist keine Wolke, die über den 28 EU-Staaten schwebt und deren Entscheide auf diese niederschlagen. Die EU, das sind die 28 Mitgliedsstaaten. Gegen ihren Willen kann Junckers Europäische Kommission wenig ausrichten.

Das gilt auch für das Verhältnis zur Schweiz. Wenn jemand wie Angela Merkel, Emmanuel Macron oder Sebastian Kurz die Schweizer Bundespräsidentin, den Schweizer Bundespräsidenten trifft, dann ist immer viel Nettes zu hören. Man sei an guten Beziehungen zur Schweiz interessiert. Man respektiere die Eigenheiten unseres Landes.

Nicht wenige in der Schweiz denken dann jeweils, man habe jetzt einen Verbündeten – gegen die EU in Brüssel. Mir scheint, dass bisweilen auch unser ehemaliger Aussenminister Didier Burkhalter diesem Trugschluss unterlag.

Tatsache ist: Die oftmals kompromisslose Haltung der EU gegenüber der Schweiz, zum Beispiel in Sachen Personenfreizügigkeit, wird von allen 28 Regierungen in der EU getragen.

Gleiche Regeln für alle

Es gibt in der EU zwar sehr wohl eine kritische Debatte über die Personenfreizügigkeit, zumindest über deren Auswüchse. Das macht die EU-Staaten aber nicht zur Verbündeten der Schweiz.

Am Verhandlungstisch hören die Schweizer das Gleiche, was jetzt auch die Briten zu hören bekommen: ohne Personenfreizügigkeit kein Zugang zum Binnenmarkt der EU, unteilbar seien die sogenannten vier wirtschaftlichen Freiheiten: freier und uneingeschränkter Verkehr für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte. Ob die Personenfreizügigkeit ökonomisch zwingend zu einem Binnenmarkt gehört, darüber kann man sich streiten. Tatsache ist: In der EU sehen das die allermeisten so.

In der Schweiz erscheint diese Haltung als Dogma. Als reiches und wirtschaftlich erfolgreiches Land ist die Schweiz mit einer Einwanderung konfrontiert, die in der EU – von Luxemburg abgesehen – ihresgleichen sucht. Wäre es nicht gesunder Menschenverstand, im wirtschaftlich so vielfältigen Europa ein bisschen mehr Vielfalt bei der Einwanderungspolitik zu akzeptieren?

Machtbasis Binnenmarkt

Zumal ja die Argumentation der EU – sagen wir – nicht ganz korrekt ist. Die Schweiz hat nämlich, anders als häufig dargestellt, keinen vollständigen Zugang zum EU-Binnenmarkt. Wir haben zum Beispiel kein Dienstleistungsabkommen mit der EU. Und wir sind auch nicht Teil des europäischen Kapitalmarkts.

Freilich steckt hinter der Haltung der EU mehr als nur die dogmatische Ansicht einiger «Binnenmarkt-Kampfhunde» in Brüssel – um es in den Worten eines Schweizer Gewerkschaftsführers auszudrücken.

Denn der Binnenmarkt ist die eigentliche Daseinsberechtigung der EU, ihr funktionierender Kern, ihre Machtbasis. Als Herr Juncker kürzlich in Washington vom amerikanischen Präsidenten empfangen wurde, dann nicht, weil Herr Juncker Flugzeugträger und Atomwaffen befehligt, das tut er bekanntlich nicht. Auch ist der Euro sehr weit davon entfernt, dem Dollar als Weltwährung Konkurrenz zu machen.

Aber der Binnenmarkt der EU ist der – je nach Berechnung – grösste oder zweitgrösste der Welt. Überall auf der Welt stehen Regierungen Schlange, um auf und mit diesem Markt mit seinen mehr als 500 Millionen Konsumenten Geschäfte machen zu dürfen. Es ist der Binnenmarkt, welcher der EU Macht und Einfluss gegen aussen verleiht. Und vor allem, noch wichtiger: Es ist der Binnenmarkt, welcher das Gebilde im Innern zusammenhält.

Familie bleibt Familie

Ohne Binnenmarkt keine EU. Alles, was den Binnenmarkt zu schwächen droht, sieht die EU als existentielle Bedrohung. Das gilt auch für die Extrawürste der Schweizer beim Lohnschutz.

Die EU ist eine Staatenfamilie. Und wie in vielen Familien wird auch in der EU oft und sehr heftig gestritten. Von Liebe ist bisweilen wenig bis gar nichts zu spüren. Aber Familie bleibt Familie.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban wird gerne als "EU-Skeptiker" bezeichnet. Doch wenn sein Regierungssprecher Zoltán Kovács in Brüssel vor die Medien tritt, dann sagt er Sätze wie: "Wir Ungarn sind die grössten Fans der EU, aber wir wollen eine andere EU: konservativ und christlich."

Gestritten wird darüber, wie die EU sein soll, nicht ob sie sein soll. Dem Beispiel Grossbritanniens, aus der EU auszutreten, scheint vorderhand niemand folgen zu wollen.

Die Schweiz ist nicht Teil dieser EU-Familie. Wenn die EU-Staaten Kompromisse eingehen, Zugeständnisse machen, etwa bei der Personenfreizügigkeit, dann zuerst untereinander, nicht mit und gegenüber der Schweiz.

Mehr Aufmerksamkeit wegen Brexit

Als ich vor vier Jahren meine Stelle als EU-Korrespondent angetreten bin, gehörte die Schweiz in Brüssel zu den eher langweiligen Themen. Irgendwo im Auswärtigen Dienst der Kommission kümmerten sich ein paar Beamte um das Verhältnis zur Eidgenossenschaft. Zu reden gaben wir erstaunlich wenig.

Trotz der Masseneinwanderungs-Initiative, die damals gerade verabschiedet worden war: Der Sonderfall Schweiz war für die EU ein gesondertes Problem. Und für die Schweiz war das eine gute Sache. Bloss nicht auffallen, damit ist die Schweiz oft gut gefahren.

Doch mittlerweile ist die Schweiz ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Zwei der einflussreichsten Beamten in der EU-Kommission kümmern sich höchstpersönlich um uns: Martin Selmayer, der Generalsekretär, und Richard Szostak, der aussenpolitische Berater von Jean-Claude Juncker.

Diese unverhoffte Aufmerksamkeit ist dem Brexit geschuldet. Denn der stellt die EU vor eine historische Herausforderung. Und aus Brüsseler Sicht gibt es viele Parallelen zwischen dem Brexit- und dem Schweiz-Dossier.

Keine inneren Begehrlichkeiten wecken

Schliessen wir einen Moment lang die Augen und stellen uns Folgendes vor: Jean-Claude Junckers EU-Kommission ist grosszügig mit den Briten, kommt allen britischen Wünschen für die Zeit nach dem Austritt entgegen: freier Zugang der britischen Firmen zum europäischen Binnenmarkt – aber keine Übernahme der dazugehörigen Gesetze und kein freier Zugang osteuropäischer Arbeitnehmer zum britischen Arbeitsmarkt.

Ein solcher Deal würde im Innern Begehrlichkeiten wecken. Auch in Österreich stellt zum Beispiel eine Regierungspartei die Personenfreizügigkeit in Frage. Könnte man den Österreichern verwehren, was man den Briten zugestanden hat? Drohte dann nicht auch der Austritt Österreichs nach britischem Vorbild?

Etwas mehr Nüchternheit, bitte

Das Misstrauen und die Missverständnisse, die es beidseits gibt, in Bern und in Brüssel, haben viel mit den Befindlichkeiten und Interessenlagen im Innern zu tun, in der Schweiz und in der EU. "Aussenpolitik ist Innenpolitik": So lautet die Überschrift einer Rede, die Bundesrat Ignazio Cassis vor zwei Monaten in Bern gehalten hat. Nirgendwo gilt das mehr als in der Europapolitik.

Herr Juncker bezeichnet sich als Freund der Schweiz, wir haben ihn zu Beginn meines Referats gehört. Wir Schweizer, sagt er, hätten ein "getrübtes Bild über die Tiefe" seiner Persönlichkeit. Richtig daran ist zumindest: Die Schweiz und die EU verstehen sich schlechter, als die geographische Nähe vermuten liesse.

Mit Verständnis allein kann Vertrauen nicht geschaffen werden. Verständnis allein löst kein Beziehungsproblem. Aber Verständnis kann helfen, eine Beziehung nüchterner zu betrachten. Und gerade etwas mehr Nüchternheit würde dem Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU guttun.
  © swissinfo.ch

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