Die EU-Kommission hat wegen der umstrittenen Justizreform ein Sanktionsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Polen eingeleitet – weil sie den dortigen Rechtsstaat bedroht sieht. Die EU zieht damit die sogenannte "nukleare Option". Doch wirkt die überhaupt?
Die polnische Regierung will sich grössere Macht bei der Ernennung der Richter sichern. Darum geht es im Kern bei der umstrittenen Justizreform, die demnächst in Kraft treten soll.
Die Europäische Union sagt: Das ist nicht mit unseren Grundsätzen vereinbar.
Brüssel hat deswegen nach Artikel 7 der EU-Verträge ein Sanktionsverfahren gegen Polen eingeleitet, zum ersten Mal in der Geschichte der Union.
Warum es zu dem Verfahren kommt
Dem ging ein zweijähriges Hin und Her voraus – mit der Eröffnung eines Rechtsstaatsverfahrens, mehr als zwei Dutzend Mahnbriefen, mit zahlreichen ergebnislosen Treffen mit Vertretern der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS).
Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, begründete die Entscheidung in Brüssel so: "Schweren Herzens" habe man sich zu diesem Schritt entschlossen "Aber die Fakten haben uns keine Wahl gelassen."
Der Grund: Der regierenden Mehrheit solle ein "systematischer politischer Eingriff" in das polnische Justizsystem gestattet werden. Die Unabhängigkeit der Justiz werde damit praktisch abgeschafft, monierte Timmermans.
Die Gespräche zwischen der national-konservativen Regierung und der EU über die auch in Polen höchst umstrittenen Reformpläne waren zunehmend stagniert.
"In diesem Jahr hat dieser Dialog nicht mehr stattgefunden", sagte Timmermans. Die jüngsten Beschwichtigungsversuche des frischgebackenen Premierminister Mateusz Morawiecki waren den Brüsseler Verantwortlichen zu wenig.
Expert: Stimmenentzug "nicht realistisch"
De facto dürfte die Massnahme der EU jedoch keine Folgen für unseren östlichen Nachbarn haben. Denn die rechtspopulistische Regierung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hat bereits ihr Nein angekündigt. Für einen Stimmenentzug ist aber Einstimmigkeit notwendig.
Als "nicht realistisch" kommentiert Prof. Thomas Jäger von der Universität Köln folglich die mögliche letzte Phase des Sanktionsverfahrens, die im Stimmenentzug Polens im Rat der EU-Mitgliedstaaten münden könnte. Sie wird auch als sogenannte "nukleare Option" bezeichnet.
"Dazu kann es erst kommen, wenn Ungarn seine Position ändern würde", erklärt der Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Aussenpolitik im Gespräch mit unserer Redaktion.
Auch andere Länder mit rechten Regierungen könnten der EU-Entscheidung die Zustimmung verweigern, beispielsweise Tschechien oder Rumänien, das eine eigene Justizreform nach dem Vorbild Polens plant.
Politologe Jäger geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass "die polnische Regierung versucht, das schlicht und einfach auszusitzen."
Schlimmstenfalls könne die religiös-nationalkonservative PiS-Partei sogar noch gestärkt werden - wenn sie das Vorgehen der Union als Angriff auf Polens Souveränität verkaufen kann.
Lenkt Ungarn ein? oder sogar Polen?
Die EU hat kaum weiteren Trümpfe in der Hand und muss damit eigentlich nur auf das Einlenken der Polen bei der Justizreform oder das ausbleibende Nein Ungarns im Sanktionsprozess hoffen.
Ein klein wenig Hoffnung hat Brüssel darauf. Die Verantwortlichen hoffen laut "Spiegel Online", dass Orban davor zurückschreckt, gegen alle anderen EU-Staaten die Politik Warschaus zu decken.
Zudem überlegt Brüssel Fördermittel zukünftig von der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards abhängig zu machen. Auch das könnte ein ungarisches Nein verhindern - und natürlich den Druck auf Polen erhöhen.
So geht Urs Pötzsch vom Centrum für Europäische Politik in Freiburg geht hingegen davon aus, dass eine Verhandlungslösung zwischen Polen und der EU noch möglich ist. "Polen hat kein Interesse daran, sich innerhalb der EU zu isolieren", sagte er im "Deutschlandfunk".
Seine Erklärung: Die immens wichtigen Brexit-Gespräche und die Verhandlungen über den nächsten Sieben-Jahres-Etat der EU.
Auch deswegen ist noch gar nicht sicher, ob die neuen Gesetzte überhaupt verabschiedet werden.
Unwahrscheinlich ist das nicht: Denn Polens Präsident Andrzej Duda hatte bereits einmal sein Veto eingelegt und Änderungen verlangt.
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