Österreichs Politik pflegte ein enges Verhältnis mit Wladimir Putin, der russische Präsident war ein gern gesehener Gast zu öffentlichen wie privaten Anlässen. "Unsere Politik hing liebgewonnenen Mythen nach", sagt der ehemalige Diplomat Martin Weiss dazu im Gespräch mit unserer Redaktion.

Ein Interview

Herr Weiss, das Jahr 2022 war für die österreichische Raiffeisen-Bank ein Rekordjahr: 3,6 Milliarden Euro Gewinn. Ihre Tochter Raiffeisen Bank International (RBI) ist eine der erfolgreichsten Banken am russischen Finanzmarkt: über hundert Filialen, über drei Millionen Kunden. Seit Kriegsbeginn "prüft" RBI einen Rückzug aus Russland – und tut es nun nach langem Zögern. Geht Profit vor Menschenleben?

Martin Weiss: Man muss das im Gesamtbild sehen. Die Universität Yale hat herausgefunden, dass von 1.400 Firmen von den G7-Staaten und aus der Europäischen Union nur circa acht Prozent vollständig aus dem russischen Markt rausgegangen sind. Es gibt einen unterschiedlichen Zugang von Politik und Wirtschaft.

Wie meinen Sie das?

In der Politik gab es am 24. Februar vor einem Jahr ein sehr hartes Erwachen in der Ost-Politik, die man bis dahin gefahren hatte. Wandel durch Handel, Gewinne auf beiden Seiten durch Kooperationen – das war die damalige Denkweise. Seit dem Überfall auf die Ukraine ist diese Blase zerplatzt. Die Politik hat das Ruder herumgerissen und ziemlich harte Sanktionen verabschiedet. In der Wirtschaft zögert man eher, zieht langsam nach. Das ist zu einem gewissen Grad verständlich, da sich Unternehmen Märkte aufbauen und viel Geld, Personal und Zeit hineininvestieren.

Martin Weiss: "Irgendwann wurde der Druck doch zu gross"

Wie bei der Raiffeisenbank?

Man wollte dort zuerst alle Optionen prüfen – und nun hat man sich doch für den Verkauf ihrer Filialen, den Rückzug aus Russland entschieden. Ein derartiger Verkauf ist für jede Firma ein riesiges Verlustgeschäft. Es sieht so aus, als wollte die Bank anfangs etwas Zeit gewinnen, um die Entwicklung im Ukraine-Krieg abzuwarten. Irgendwann wurde dann aber der Druck von Öffentlichkeit, Medien und den Investoren doch zu gross.

Wie genau sahen die geschäftlichen Verbindungen aus? Die RBI durfte tatsächlich als eine der wenigen Banken in Russland noch am internationalen Zahlungssystem Swift teilnehmen.

Da wird jetzt von allen Regulatoren ganz genau hingeschaut, aus sämtlichen Ländern. Man muss dabei auch ein bisschen vorsichtig sein und Moral und Recht unterscheiden. Niemand hat ja der Raiffeisenbank vorgeworfen, dass sie Gesetze verletzt hätte. Es wurde etwas getan, was man innerhalb der Russland-Sanktionen auch tun durfte. Natürlich darf dabei aber hinterfragt werden, ob das alles ausgereizt werden muss.

Auch Österreichs Gasimporte aus Russland sind gestiegen. Im Dezember kamen geschätzte 71 Prozent der Gasimporte aus Russland. Im Februar sollen es schon fast wieder 80 Prozent gewesen sein. Insgesamt betrug der Anteil von Gas am gesamten Energieverbrauch Österreichs im vergangenen Jahr rund 23 Prozent. Hängt Österreich an Putins Gasleine?

In der Vergangenheit hat man sich in zu grosse Abhängigkeiten begeben – das sieht man in Österreich genauso wie in Deutschland. Läuft alles normal, fällt das niemandem auf. Ob das Gas aus Abu Dhabi, Russland oder Norwegen kommt, ist dem Konsumenten völlig wurscht. Der Preis ist das Einzige, was interessiert. Schaut man dann in einer Krise genau hin, wie jetzt, sieht man: Hoppala, fast all unser Gas kommt aus einer Quelle - und die heisst Russland. Ein kluges Land hätte diversifiziert. Und dass Putin nicht gerade ein Waisenknabe ist, weiss man spätestens seit der Annexion der Krim im Jahr 2014.

"Olaf Scholz' 'Zeitenwende' trifft es ziemlich gut"

Österreich liegt mitten in Europa. Fiel es deshalb schwer, in kurzer Zeit alternative Gasquellen zu finden?

Deutschland liegt am Meer. Dort konnten schnell LNG-Terminals gebaut werden. Für ein Binnenland wie uns ist das komplizierter. Olaf Scholz' "Zeitenwende" trifft es ziemlich gut: Wir haben jetzt mal nicht nur ein schlechtes Jahr und danach kommt wieder ein besseres. Seit Kriegsausbruch muss ganz anders gedacht und reagiert werden. Da kann dann nicht mehr die OMV, Österreichs halbstaatlicher Öl- und Gaskonzern, sagen: "Wir haben langfristige Verträge mit Russland, da kann man nichts machen." Eine derartige Haltung wird dem Ernst der Situation nicht gerecht.

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Könnte das österreichische Zögern auch mit den engen Beziehungen einzelner Politiker zusammenhängen? Man gefiel sich in der Rolle als Partner Russlands. Für Putin und Gazprom-Chef Alexej Miller gab es zuletzt 2018 einen grossen Empfang in der Hofburg. Im selben Jahr kam der Kreml-Chef als Überraschungsgast zur Hochzeit der damaligen Aussenministerin Karin Kneissl.

Genau diese Diskussion wird jetzt in Österreich geführt: Wer hat die Weichen wie gestellt, dass derartige Abhängigkeiten entstehen konnten? Speziell bei der OMV stellt sich diese Frage, das ist ja keine reine Privatfirma. Immerhin 31,5 Prozent der OMV-Aktien sind im österreichischen Staatsbesitz. Was gut und klug in Zeiten des Friedens sein kann, fliegt einem in einem Konflikt um die Ohren. Da passt ein Zitat von Warren Buffet gut dazu: "Bei Ebbe siehst du, wer nackt in der Flut geschwommen ist."

Es gab auch stehende Ovationen für Putin bei seinem Besuch im Juli 2014 in der Wiener Wirtschaftskammer unter den Augen von Bundespräsident Heinz Fischer – vier Monate nach der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim.

Das holt uns alles jetzt ein. Kein Wunder, dass die Ukraine uns vorwirft, dass nicht erst alles am 24. Februar 2022 begonnen habe. Da gab es eine Vorgeschichte. Schaut man sich diese Bilder der Empfänge mit dem Wissen von heute an, dann dreht sich einem der Magen um. Heute zahlen wir alle den Preis, vor allem die Ukraine.

"Unsere Politik hing liebgewonnenen Mythen nach"

Zum österreichischen Stolz gehört die "immerwährende Neutralität", die sich seit Jahrzehnten auszahlt: Wien versteht sich als Brückenbauer, als Verhandlungsort, etwa bei Gesprächen zwischen dem Iran und den USA. Nach österreichischem Verständnis gehört dazu, dass man Geschäftsbeziehungen erhält, über Kriege hinweg. Deckt sich das mit Ihrer Meinung als ehemaliger Diplomat?

Dieses Denken wird gerade entzaubert und sehr infrage gestellt. Was für die Zeit des Kalten Kriegs stimmen konnte, ist schon lange nicht mehr korrekt. Wir liegen genau an der Bruchkante, im Herzen Europas. Alle unsere Nachbarn sind Nato-Mitglieder, bis auf die Schweiz und Liechtenstein. Da hat sich so viel verschoben. Unsere Politik hat da lange nicht nachgezogen, hing liebgewonnenen Mythen nach. Europa steht für Solidarität, das sieht man doch auch an Schweden und Finnland. Die sind jetzt auch in der Nato oder einen kleinen Schritt davor. Das schützt und nichts anderes. Unsere langsame Reaktion fasst ein Zitat von Gustav Mahler gut zusammen: "Wenn die Welt einmal untergeht, dann ziehe ich nach Wien. Dort passiert alles 50 Jahre später."

Ich möchte mit einem Zitat von Aussenminister Alexander Schallenberg anschliessen: "Russland wird nicht verschwinden, sondern der grösste Nachbar der EU bleiben." In seinen Augen hat die RBI-Bank bisher vernünftig agiert, indem sie abwartete, während alle Szenarien geprüft wurden ...

Putin hat Schritte gesetzt, die Russland völlig von uns trennen. Mit "Na ja, es ist nicht alles schlecht. Das wird schon wieder" kommen wir nicht mehr weiter. Wir müssen reagieren. Für Österreich heisst das: Evaluieren der eigenen Sicherheitspolitik und des Verhältnisses zu Russland. Ich bin froh, dass jetzt die Raiffeisenbank ganz klar von einem Verkauf spricht. Man muss Farbe bekennen. Denn man wird uns später fragen: Wo standet ihr damals, wie habt ihr reagiert? Es gibt Momente in der Geschichte, da wird einem das Massband angelegt. Mit Augen zu und durch geht’s nicht mehr weiter.

Über die Person: Martin Weiss war von November 2019 bis Juli 2022 Österreichs Botschafter in den USA, seither leitet er die Kaderschmiede "Salzburg Global Seminar". Zwischen 2012 und 2015 war er auch Sprecher des Aussenministeriums in Wien.
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