Der EU-Haushalt ist in dieser Woche Thema beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Dabei stellen der Brexit und neue drängende Aufgaben wie der Klimaschutz die Mitgliedstaaten vor besondere Herausforderungen. Politikwissenschaftler Peter Becker erklärt, ob sie sich trotzdem einigen werden.
Seit eineinhalb Jahren verhandeln die Mitgliedstaaten über den EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027. Neben dem Klimawandel ist er am Donnerstag und Freitag Hauptthema beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Warum die Gespräche diesmal besonders konfliktreich sind, erklärt Peter Becker von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Herr Becker, Sie beschreiben die EU-Haushaltsverhandlungen in einer Studie als "langwierig, komplex und konfliktreich". Dieses Mal, schreiben Sie, habe sich der Konflikt um die Verteilung der EU-Gelder noch einmal deutlich zugespitzt. Warum?
Peter Becker: Zunächst geht es ja um eine grosse Summe Geld, um rund 1,3 Billionen Euro. Die Politik muss diese Summe für sieben Jahre verbindlich auf die verschiedenen Aufgabenfelder in der Europäischen Union verteilen. Und der europäische Haushalt darf sich nicht verschulden.
Das heisst: Wenn man die Höhe der Ausgaben bestimmt, legt man auch die Höhe der Einzahlungen fest. Dafür braucht es einen Konsens zwischen 27 Mitgliedstaaten, dem Parlament und der Kommission. Das ist generell unheimlich schwierig. Diesmal ist es wegen des Brexit noch komplexer.
Einer der grössten Beitragszahler tritt aus der EU aus. Die einen sagen jetzt: Dann wird der Haushalt eben entsprechend kleiner. Die anderen finden die Herausforderungen an die europäische Politik so gross, dass die Union das Geld weiterhin dringend braucht. Entsprechend müssten die anderen mehr einzahlen.
Welche neuen Herausforderungen sind das?
Das ist der Klimawandel, das ist die Souveränität Europas, also die Verteidigungspolitik, die Stärkung der EU-Aussengrenzen. Aber das ist auch die Frage, wie man den Euro als gemeinsame Währung krisenfest macht.
Alles Themen, für die man unbestritten mehr Geld braucht. Aber beispielsweise auch für den Transitionsfonds, den die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ins Gespräch gebracht hat: Damit will sie Länder bei der Energiewende unterstützen, die noch stark auf Kohlekraftwerke setzen, wie Rumänien, Bulgarien und Polen.
Es geht meist um die unterschiedlichen Positionen der Nettozahler und Nettoempfänger. Lassen sich die Mitgliedstaaten beim Thema Haushalt tatsächlich in zwei Lager teilen?
Ganz pauschal betrachtet gibt es diese beiden Gruppen: diejenigen, die mehr einzahlen, als sie über Fördermittel aus Brüssel zurückbekommen, und diejenigen, die mehr zurückbekommen, als sie einzahlen.
Innerhalb dieser Lager finden sich aber Unterschiede. Länder wie Luxemburg oder Belgien verhalten sich eher in der Mitte. Dann gibt es sehr strenge Sparer: Schweden, Dänemark, Österreich, vor allem die Niederlande. Deutschland ist nicht ganz so streng.
Und es gibt eben die Länder, die viel Geld aus Brüssel zurück haben wollen. Vor allem die, die rückständige Regionen fördern müssen wie Rumänien, Bulgarien, aber auch Polen. Ein weiterer Mitspieler in diesem Pokerspiel ist das Europäische Parlament. Es plädiert dafür, den Haushalt möglichst gross zu machen.
Welche Rolle spielt Deutschland in der aktuellen Debatte?
Deutschland ist schon immer der grösste Nettozahler. Das könnte sich durch den Austritt der Briten noch verstärken. Vor allem die Nettoempfänger hoffen, dass die Bundesregierung als stärkste Volkswirtschaft in Europa bereit ist, die Lücke, die durch den Brexit entsteht, mit deutschen Mitteln zu füllen.
Es würde auch der traditionellen deutschen Europapolitik entsprechen, diese Verantwortung zu übernehmen. Auf der anderen Seite kann die Bundesregierung nicht alle Wünsche erfüllen – und muss die Erwartungen der anderen etwas dämpfen.
Damit Länder wie Deutschland, die viel einzahlen, entlastet werden, gab es bislang eine Ausnahmeregel: Sie bekamen Rabatte auf EU-Beitragszahlungen. Warum sollen diese nun wegfallen?
Schon in den 1980er Jahren hat die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher den ersten Rabatt für ihr Land ausgehandelt. Seitdem bekam Grossbritannien einen Nachlass von rund zwei Dritteln seiner Beiträge.
Das war und blieb ein Bruch im System – und in der gerechten Lastenverteilung bei der Finanzierung der EU. Mit dem Brexit fällt dieser Systembruch weg. Jetzt fordern Mitgliedstaaten wie Frankreich allerdings, dass auch alle anderen Rabatte gestrichen werden.
Das sind die Rabatte zugunsten der Niederlande, Österreichs, Schwedens und auch Deutschlands. Wie bewerten Sie diesen Vorstoss?
Über diese Rabatte wurden die Finanzierungslasten, also die Nettozahlungen, gerechter verteilt. Dass die Verteilung nicht ganz fair ist, liegt vor allem an den eher einseitigen Ausgaben der EU – insbesondere für die Agrarpolitik und die ärmeren Regionen.
Ein Ansatzpunkt wäre also beispielsweise, Agrarausgaben zu kürzen. Aber hier kämpft Frankreich für die eigenen Bauern. Deswegen setzen sich die grossen Nettozahler weiterhin für ihren Rabatt ein.
Zuletzt hat Deutschland 13,5 Milliarden Euro im Jahr mehr nach Brüssel überwiesen, als es aus EU-Mitteln erhalten hat. Nun geistern Zahlen herum, nach denen es passieren kann, dass die Bundesregierung statt 13,5 Milliarden Euro auf einmal bis zu 30 Milliarden netto einzahlen muss.
Dass der deutsche Nettobeitrag mit Wegfall der Rabatte drastisch steigen wird, ist klar. 30 Milliarden kommt mir allerdings sehr hoch vor. Die Zahlen, von denen das Bundesfinanzministerium ausgeht, sind niedriger.
Die Nettosumme ist auch so hoch, weil weniger aus Brüssel zurückfliesst: Deutschland bekommt für die ostdeutschen Länder und auch für die Landwirtschaft inzwischen deutlich weniger Geld als in der Vergangenheit.
Wie gerecht ist es, wenn Deutschland spürbar mehr zahlt als die anderen Mitgliedstaaten?
Ob das wirklich so ist, kann man in Frage stellen. Die Schweden zahlen derzeit pro Kopf mehr als die Deutschen ein. Wenn man sich allein die Bruttozahlungen ansieht – das, was aus dem Bundeshaushalt nach Brüssel fliesst, unabhängig von dem, was zurückfliesst – ist Deutschland nicht übermässig belastet.
Nur mal zum Vergleich: Wenn Sie den Jahreshaushalt der EU mit dem deutschen Bundeshaushalt vergleichen, ist er nur ungefähr halb so gross. Oder anders: Der EU-Haushalt ist ungefähr doppelt so gross wie der Landeshaushalt Nordrhein-Westfalens. Das ist zwar ein bisschen wie Äpfel mit Birnen vergleichen, weil die Ausgaben sehr unterschiedlich sind. Aber es zeigt die Relation.
Es gibt die Idee, neue eigene Geldquellen für die EU zu erschliessen. Die finnische Ratspräsidentschaft schlägt etwa vor, dass die Mitgliedstaaten 80 Cent pro nicht wiederverwertetes Kilo Plastikmüll an die EU zahlen. Auch Geld aus dem Emissionshandel soll nach Brüssel fliessen. Ein guter Vorschlag?
Die Diskussion über neue Einnahmequellen gibt es schon seit den 1980er Jahren – immer unter dem Stichwort EU-Steuer. Nur darf die EU keine Steuern erheben. Sie kann aber darauf drängen, dass die Mitgliedstaaten alle die gleichen Abgaben einführen und diese an den EU-Haushalt weitergeben. Das ist allerdings sehr umstritten.
Was dafür spricht: Wenn es derartige Abgaben gäbe, würden die Nettozahlungen ein bisschen relativiert – weil dann weniger über den Bundeshaushalt und mehr direkt vom Bürger an die EU fliessen würde.
Die Berichterstattung dreht sich viel um die Probleme, sich auf einen gemeinsamen Haushalt zu einigen. Welche Chancen liegen in den Verhandlungen?
Kritiker fordern immer wieder, dass die EU weg müsse von der starken Agrarpolitik, weg von den hohen Ausgaben bei den Strukturfonds, die zu wenig effizient seien. Das sind die beiden grossen Ausgabenblöcke. Die Agrarpolitik, die schon seit 1957 besteht, ganz abzuschaffen, das funktioniert nicht.
Der Haushalt ändert sich zwar, aber in kleinen Schritten. Neu ist jetzt, dass das "Greening" Ziel in allen Bereichen ist. Ein Viertel aller Ausgaben soll Klimaschutzmassnahmen gelten – egal ob in der Landwirtschaft, in der Forschung oder bei den Strukturfonds.
Klimaschutz findet also nicht nur im dafür aufgelegten Programm statt, sondern in allen Politikfeldern. Das ist zwar weniger sichtbar, aber nicht weniger wirksam.
Die alte Kommission hat 2018 einen Vorschlag für den Haushalt vorgelegt. Die neue Kommission und das neue Parlament müssen jetzt also mit dem arbeiten, was die Vorgänger diskutiert haben.
Der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat vor allem versucht, die EU in der Krise zusammenzuhalten. Seine Nachfolgerin Von der Leyen will jetzt nach vorne gehen.
Auch mit ihrer Idee des Transitionsfonds versucht die neue Kommission, das Thema Klimaschutz im Haushalt sichtbar zu machen. Klar ist allerdings: Das Geld für diesen neuen Bereich muss in einem anderen eingespart werden. Da bin ich noch nicht sicher, ob der Fonds zu neuen Lösungen oder aber zu mehr Konflikten führen wird.
Wenn alles so kompliziert ist – werden sich die Mitgliedstaaten überhaupt einigen?
Es wird schwierig, aber sie werden sich einigen. Die Verhandlungen folgen einem bestimmten Muster. Demnach ist immer der zweite europäische Gipfel der entscheidende.
Der erste, der in dieser Woche stattfindet, ist dazu da, sich abzutasten, die roten Linien der anderen kennenzulernen. Der eigenen Wählerschaft klarzumachen: Wir verhandeln da noch nach.
Beim zweiten Gipfel, der im Frühjahr 2020 ansteht, ist allen Seiten klar, dass sie einen Konsens finden müssen – dann gehen sie mehr Kompromisse ein. Denn alle wissen: Es wäre ein unheimlich schlechtes Signal, wenn die Europäer sich nicht einigen – und somit nicht handlungsfähig sind.
Verwendete Quellen:
FAZ: Deutschland soll wesentlich mehr für die EU zahlen
Süddeutsche Zeitung: Streit um Milliarden und Rabatte
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