Aserbaidschan hat einen militärischen Angriff auf die armenischen Kräfte in der Region Berg-Karabach gestartet. Nach nur einem Tag war das Ziel erreicht: Präsident Aliyev erklärte, die vollständige Kontrolle über die Region sei hergestellt, die "Wiedereingliederung" beginne. Worum geht es bei dem Konflikt und wie geht es nun weiter? Experte Stephan Malerius erklärt die Zusammenhänge – ebenso wie die nicht zu unterschätzende Rolle Russlands.
Es war ein Krieg, der kaum 24 Stunden dauerte. Am Dienstag (19.) begann Aserbaidschan mit heftigen Artillerie- und Drohnen-Angriffen auf die Region Berg-Karabach im Kaukasus. Und schon tags darauf (20.) erklärte Aserbaidschans Präsident Aliyev den Sieg über die dortigen Separatisten.
Die bewaffneten armenischen Kräfte konnten der militärischen Übermacht Aserbaidschans kaum etwas entgegensetzen – sie willigten in eine Waffenruhe ein, die die vollständige Entwaffnung der Armenier beinhaltete.
Gespräche steckten in einer Sackgasse
Man habe die "Anti-Terror-Massnahmen" gegen die Separatisten in Berg-Karabach erfolgreich zu Ende gebracht und die Souveränität des Landes wiederhergestellt, verkündete Aliyev daraufhin in einer Rede an die Nation.
Stephan Malerius ist Kaukasus-Experte. Er sagt: "In der ersten Jahreshälfte hatte es eigentlich viele diplomatische Initiativen gegeben mit mehreren Treffen zwischen den Aussenministern und Staatsführern Armeniens und Aserbaidschans." Ziel des Verhandlungsprozesses, in dem sich auch die Europäer stark engagierten, sei ein Friedensvertrag gewesen.
"Die Gespräche sind durch die monatelange Blockade der einzigen armenischen Zugangsstrasse nach Berg-Karabach durch Aserbaidschan in eine Sackgasse geraten", sagt Malerius. Der Gewaltausbruch sei nicht überraschend gekommen, es habe im Vorfeld Truppenbewegungen und eine Mobilisierung von Wehrpflichtigen in Aserbaidschan gegeben. "Ausserdem hat Aserbaidschan eine sehr kriegslüsterne Rhetorik an den Tag gelegt. Armenien war gewarnt, ohne etwas dagegen tun zu können", sagt der Experte.
Worum es bei dem Konflikt geht
Armenien und Aserbaidschan streiten seit Sowjetzeiten über die Region im Kaukasus, in zwei Kriegen (1992-1994 und 2020) verloren Zehntausende ihr Leben. Berg-Karabach ist von aserbaidschanischem Staatsgebiet umgeben, wird aber von etwa 120.000 ethnischen Armeniern bewohnt.
"International ist die Enklave Teil von Aserbaidschan. Während Aserbaidschan auf territoriale Integrität pocht, beruft sich die armenische Seite auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen", erklärt Malerius. Die Armenier, die dort lebten, wollten keine Staatsbürger von Aserbaidschan werden – und das ist verständlich. Versuche, in der Vergangenheit Referenden abzuhalten, seien immer wieder gescheitert.
Aserbaidschan will "Nägel mit Köpfen machen"
Im letzten Karabach-Krieg hatte Aserbaidschan bereits einen grossen Teil der Region zurückerobert, der zuvor unter der Kontrolle von armenischen Kräften stand. Moskau vermittelte damals einen Waffenstillstand und stationierte "Friedenstruppen". Auch der jetzige Waffenstillstand soll von ihnen vermittelt worden sein.
"Aserbaidschan hat den ersten Krieg in den 90er-Jahren verloren und ein Trauma mit sich getragen. Der zweite Krieg war eine Revanche, den hat es gewonnen", sagt Malerius. Im Jahr 2020 sei Aserbaidschan noch gebremst worden, weil man die Armenier, die noch in Berg-Karabach lebten, nicht habe umbringen oder vertreiben können. "Jetzt wollte Aserbaidschan Nägel mit Köpfen machen", analysiert der Experte.
Moskau hat die Seiten gewechselt
Gespräche über die "Wiedereingliederung" der Enklave laufen bereits, dafür ist eine Delegation ethnischer Armenier in die Stadt Yevlax gereist. Auch ein Vertreter der russischen Friedenstruppen nahm teil.
Die Rolle von Moskau hält Malerius für wichtig. "Moskau war über 30 Jahre eine Einflussmacht und hat beide Seiten hochgerüstet", erklärt er. Russland habe ein grosses Interesse an dem Konflikt gehabt und daran, ihn am Kochen zu halten. "Es wollte als Einflussmacht gebraucht werden. Russland will eine Nachbarschaft, die ohne Russland nicht auskommen kann."
Russland sei traditionell Schutzmacht von Armenien gewesen, doch das habe sich in den letzten Jahren geändert. "Russland ist zu einem Partner Aserbaidschans geworden und hat die Seiten gewechselt", sagt der Experte
Wut auf Russland regt sich schon
Die Gründe: Armenien habe klargemacht, dass es sich demokratisch entwickeln, den Rechtsstaat stärken und gute Kontakte nach Europa haben wolle. "Als hochkorruptes, repressives und autoritäres Regime passt Aserbaidschan sehr viel besser zu Russland", sagt Malerius.
Russland brauche Aserbaidschan ausserdem, um Gas und Öl über Umwege in den Westen zu bringen. "Zudem ist Aserbaidschan Partner der Türkei – das ist für Moskau angesichts des Krieges in der Ukraine sehr wichtig", ergänzt der Experte.
Die Wut auf Moskau regt sich in Armenien und Berg-Karabach bereits: Denn anders als zugesichert, hat Moskau den 2020 vereinbarten Waffenstillstand nicht garantiert.
Noch ist kein Ergebnis der Verhandlungen zwischen Armeniern in Berg-Karabach und Aserbaidschanern bekannt. Malerius sagt aber: "Ich gehe davon aus, dass die Armenier aus Berg-Karabach werden weggehen müssen." Das passt zu Berichten, dass Evakuierungen von Armeniern bereits begonnen haben.
Nach Informationen des russischen Verteidigungsministeriums haben vor Ort stationierte russische Soldaten bislang rund 5.000 Karabach-Armenier aus besonders gefährlichen Orten der belagerten Region herausgebracht.
"Die Armenier in Berg-Karabach können sich unter keinen Umständen vorstellen, unter dem aserbaidschanischen Regime zu leben und die selbsternannte Republik aufzugeben. Es wird einen grossen Exodus geben", vermutet Malerius. Seine Hoffnung ist, dass die Flucht friedlich abläuft. "Man muss aber auch klar sagen: Es ist eine ethnische Säuberung. Aserbaidschan säubert Berg-Karabach von Armeniern", betont Malerius.
Über den Experten:
- Stephan Malerius ist Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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