Der neu gewählte Präsident Lai Ching-te steht für die Eigenständigkeit Taiwans vom chinesischen Festland. China hingegen betrachtet den Inselstaat als abtrünnige Provinz und kritisiert die Wahl. Wie geht es nun weiter?
Taiwan hat seit Samstag einen neuen Präsidenten. Lai Ching-te war bisher Vize-Präsident gewesen, nun hat seine Partei DPP abermals die Wahl gewonnen. Lai gilt als Kritiker der Politik auf dem chinesischen Festland und macht sich für eine Eigenständigkeit Taiwans stark. Bisher hat der Inselstaat es vermieden, sich unabhängig zu erklären. Die Volksrepublik China hatte angekündigt, im Falle einer Unabhängigkeitserklärung Taiwans mit einer Invasion zu reagieren.
Die Regierung in Peking sieht die Insel als Teil des eigenen Staatsgebietes. Obwohl die kommunistische Partei dort noch nie regiert hat, strebt sie seit längerem eine Integration an. Auf die Wahl reagierte das chinesische Aussenministerium kritisch: "Die Taiwan-Frage ist eine interne Angelegenheit. Welche Veränderungen auch immer in Taiwan stattfinden, die grundlegende Tatsache, dass es nur ein China auf der Welt gibt und Taiwan Teil Chinas ist, wird sich nicht ändern."
Die Ein-China-Politik
Die Volksrepublik China macht es zur Bedingung für die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen, dass ihre Ein-China-Politik anerkannt wird. Diese besagt, dass ausschliesslich die Volksrepublik China Vertreter des chinesischen Volkes ist. Deutschland, die USA und auch die allermeisten anderen Staaten auf der Welt erkennen diese Forderung an. Auch die Vereinten Nationen akzeptieren seit 1971 die Volksrepublik als legitimen Vertreter Chinas.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Taiwan nach fünfzig Jahren Besatzung durch Japan unabhängig geworden und der nationalistischen Regierung von Chiang Kai-shek zugesprochen worden. Diese unterlag im chinesischen Bürgerkrieg den Kommunisten unter Mao Zedong, verliess das Festland und zog sich auf die Insel zurück. Dort errichtete sie eine autoritäre Regierung, die sich in den 1980er-Jahren gegenüber demokratischen Prozessen öffnete und aus der die heutige Republik China beziehungsweise Taiwan entstand.
Zunehmende Spannungen zwischen Taiwan und China
Peking erkennt die Regierung in Taipeh bis heute nicht an und drängt auf die Wiedervereinigung, zur Not auch mit Waffengewalt. Seit Mitte der 2000er versucht Taiwan, die Gefahr einer Invasion durch Diplomatie abzuwenden. Die bisherige Regierungslinie war es daher, auf eine Unabhängigkeitserklärung zu verzichten, solange es keine militärische Aggression seitens Pekings gibt. Auch die Volksrepublik erklärte sich bereit, auf Militärgewalt zu verzichten, solange es keine offiziellen Unabhängigkeitsbestrebungen gibt.
In den vergangenen Jahren nahmen die Spannungen im Taiwan-Konflikt allerdings zu und dürften durch die Wahl von Lai einen neuen Höhepunkt erreichen. Auch die USA haben Taiwan in den vergangenen Jahren zusätzliche Militärhilfen zugesagt und erklärt, sie würden sich im Falle einer Invasion Chinas hinter den Inselstaat stellen. Wie nahe ist eine Eskalation des Konflikts und was würde er für die Lage in der Region bedeuten?
Wird Präsident Lai die Unabhängigkeit erklären?
Henning Klöter ist Professor für Ostasienstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht unter anderem zur Geschichte und Gesellschaft Taiwans. Gegenüber unserer Redaktion erklärt er: "Ich gehe von einem sehr hohen Mass an Kontinuität aus im Vergleich zur bisherigen Präsidentin Tsai Ing-wen. Sie gehören beide derselben Partei an und ich denke, Lai wird die Linie der bisherigen Politik weiterführen."
Allerdings habe er keine absolute Mehrheit im Parlament mehr. Daher müsse er mit anderen Parteien Koalitionen bilden. Diese seien aber in Bezug auf die Politik mit der Volksrepublik China ähnlicher Meinung.
Klöter erwartet nicht, dass der neue Präsident die Unabhängigkeit Taiwans erklären wird: "Er hat zwar vor einigen Jahren sehr ausdrücklich gesagt, dass er sich als Arbeiter für die Unabhängigkeit Taiwans betrachte. Ich bin auch davon überzeugt, dass er dieses Ideal hat, aber er ist lange genug in der Politik, um zu wissen, dass diese Forderung problematisch wäre."
Bisher war es das Verständnis der taiwanesischen Politik, dass man bereits als Republik China unabhängig sei – auch wenn die Volksrepublik China das nicht anerkennt – und daher keine Unabhängigkeit erklären muss.
Inwiefern ist eine Invasion Chinas zu erwarten?
"China hat extrem in Rüstungsprojekte investiert. Es ist auch so, dass die Aufrüstung der Volksbefreiungsarmee grosse Fortschritte macht", sagt der China-Experte. Man gehe davon aus, dass China bis Ende der 2020er-Jahre in der Lage ist, Taiwan durch eine amphibische Landeoperation einzunehmen.
Auch gebe es politisches Interesse an der "Wiedereingliederung" Taiwans, wie es die chinesische Staatsführung nennt. Staatschef Xi Jinping habe erklärt, dass der Status Quo zwischen China und Taiwan nicht ewig hinnehmbar sei.
Der aktuelle Staatspräsident sei wohl auch nur noch zehn bis zwanzig Jahre im Amt und habe den Ehrgeiz, dieses Projekt noch selbst umzusetzen. "Sowohl Taiwan als auch der Rest der Welt können diese Gefahr nicht ignorieren. Sie besteht definitiv."
Würden die USA Taiwan im Falle eines Angriffs beistehen?
Nachdem die USA die Volksrepublik China in den 1970er-Jahren schrittweise anerkannt hat, hat sie sich gleichzeitig schriftlich dazu verpflichtet, Taiwan im Falle eines Konflikts militärisch zu unterstützen. Ob diese Beistandspflicht nach wie vor besteht, sei allerdings fraglich, sagt Klöter: "Seither haben sich einige Präsidenten zurückhaltend geäussert."
Sowohl der aktuelle Präsident Joe Biden als auch der ehemalige US-Präsident Donald Trump hätten sich jedoch hinter die Inselrepublik gestellt und erklärt, dass diese nach wie vor den Schutz der USA geniesse. Zusätzlich sei es laut Klöter so, dass ein Angriff auf Taiwan nicht möglich sei, ohne US-amerikanische Militärbasen vor Ort miteinzubeziehen. Somit würden die USA unweigerlich mit in den Konflikt gezogen. "Das wäre der Moment der Eskalation. Dann würde ein Flächenbrand entstehen, der auch globale Ausmasse annehmen kann."
Über den Gesprächspartner
- Henning Klöter ist Sinologe und Linguist und seit 2015 Professor für Ostasienstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Henning Klöter
- tagesschau.de: Der Westen gratuliert - Peking ist verärgert
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