Im Januar wurde die türkeinahe Wählervereinigung "Dava" ins Leben gerufen – und sorgt hierzulande bereits mächtig für Kritik. Die Sorge: Bei der Gruppierung könnte es sich um einen Ableger der Erdogan-Partei AKP handeln. Türkei-Experte Yaşar Aydın ordnet die Gruppierung ein.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Manche nennen sie eine "türkische Version der AfD", andere fordern die Sicherheitsbehörden auf, ein wachsames Auge auf die Gruppierung zu haben. Noch bevor die Dava-Gruppierung, kurz für "Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch", erstmals bei einer Wahl angetreten ist, sorgt sie in Deutschland bereits für jede Menge Kritik.

Mehr aktuelle News

Denn die im Januar gegründete Wählervereinigung, die erstmals bei der Europawahl am 9. Juni als politische Kraft ins Rennen gehen will, gilt manchen als verlängerter Arm des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die Dava selbst weist das entschieden zurück: Es gebe weder finanzielle noch logistische Verbindungen zur AKP.

AKP-nahe Gruppierung?

"Wir haben weder vor der Gründung und auch nicht nach der Gründung Kontakt gehabt mit Vertretern von ausländischen Regierungen", sagte Sprecher und Parteichef Teyfik Özcan der Nachrichtenagentur dpa. "Es ist uns wichtig, immer wieder zu betonen, dass die Dava kein verlängerter Arm irgendeiner ausländischen Regierung ist", so Özcan weiter. In einer Mitteilung schreibt die Dava über sich selbst: "Sie ist eine deutsche Partei, die von deutschen Staatsbürgern getragen wird."

Die Dava hat angekündigt, auch bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr antreten zu wollen. Derzeit ist sie noch eine Wählervereinigung, strebt aber an, in eine Partei umgewandelt zu werden. Dabei ist die Dava bereits jetzt siegessicher: "Wenn ich die ganzen positiven Zuschriften als Indikator nehme, dann gehe ich fest davon aus, dass wir ins Europaparlament einziehen werden", erklärte Sprecher Özcan dem RND.

Politische Heimat für Türkeistämmige

An der Europawahl können neben Parteien auch sonstige politische Vereinigungen teilnehmen, wozu die Dava zählt. Die Fünf-Prozent-Hürde gilt bei der Europawahl nicht. Nach eigenen Angaben will die Gruppierung diejenigen erreichen, die sich von den etablierten Parteien nicht verstanden und vertreten fühlen.

Eine politische Heimat könnte sie dabei vor allem Türkeistämmigen und wahlberechtigten Muslimen allgemein geben. Die Dava bezeichnet sich selbst als "Stimme gegen Diskriminierung und Rassismus" und fordert in ihrer Gründungserklärung beispielsweise, dass "Menschen mit ausländischen Wurzeln ihre Rechte in vollem Umfang zugesprochen bekommen." Konkret tritt die Gruppierung für mehr Sozialleistungen gegen Kinder- und Altersarmut sowie für eine "pragmatische" und "ideologiefreie Flüchtlingspolitik" ein.

Sprachrohr für konservative Muslime

"Es wird eine Gruppe sein, die die Interessen primär konservativer Muslime, hauptsächlich aus der Türkei, vertreten wird", beobachtet Türkei-Experte Yaşar Aydın. In Deutschland leben rund 2,8 Millionen türkeistämmige Menschen, etwa 1,5 Millionen davon haben einen deutschen Pass und sind ab einem bestimmten Alter wahlberechtigt.

"Viele konservative Muslime fühlen sich von der deutschen Politik nicht vertreten und das kann man nicht von der Hand weisen", sagt Aydın. Sie hätten in der Tat kein Sprachrohr. Türkei-stämmige Abgeordnete auf Landes- oder Bundesebene seien fast durchgehend säkulare Menschen, die sich teilweise vom Islam weiter entfernt hätten.

Dava spricht von "systematischer Hetze"

"Sie sind vielleicht kulturell muslimisch, aber eventuell nicht gläubig und haben somit keinen Kontakt zur muslimisch-konservativen Wählerschaft. Es gibt kaum Menschen mit muslimisch-konservativer Lebensführung, die in der Parteienlandschaft vertreten sind", analysiert der Experte. Genau das könnte aus seiner Sicht die Lücke sein, in die die Dawa stossen könnte.

Dabei gehe es der Gruppierung auch um Themen wie Muslimfeindlichkeit und Islamophobie. Bereits jetzt hatte sie beispielsweise thematisiert, dass sich Migrantinnen und Migranten bei der Wohnungssuche, bei Bewerbungen und Behördengängen nicht als vollwertige Mitglieder der europäischen Gesellschaft fühlen würden.

Die Dava spricht von "systematischer Hetze gegen Politiker und Personen mit Migrationshintergrund". In einer Mitteilung schreibt die Gruppierung: "Wer dem gewohnten politischen Establishment entgegensteht, wird mundtot gemacht".

Name erinnert an islamischen Begriff

"Sie werden versuchen, wenn sie es so weit bringen, Themen auf die Tagesordnung zu bringen, die von der Mainstream-Politik vernachlässigt werden", meint Aydın. Wie gefährlich ist die Dava? Beobachter hatten bereits mit Sorge auf die Ähnlichkeit des Namens zum islamischen Begriff Da’wa hingewiesen, der für eine Missionierung von Nichtmuslimen steht.

"Wenn man sich die Leute anschaut, die bislang im Vordergrund stehen, sind das alles Menschen, die aus dem Dunstkreis der AKP kommen. Viele hatten mit der AKP zu tun", sagt auch Aydın. So sei beispielsweise Fatih Zingal, der bei der Europawahl Spitzenkandidat werden soll, bis vor kurzem stellvertretender Vorsitzender der Union International Democrats gewesen – einer AKP-nahen Lobby-Organisation.

Mitglieder aus dem Dunstkreis der AKP

"Andere Mitglieder sind in der Vergangenheit durch ihre Parteinahme zugunsten der AKP und zugunsten Erdogans aufgefallen. Die Diagnose, dass die Dava AKP-nah sein könnte, ist nicht von der Hand zu weisen", so die Einschätzung des Experten.

Parteichef Özcan soll in der Vergangenheit jahrzehntelang Mitglied der SPD gewesen sein, ehe er austrat. Seine Haltung zum Krieg in Nahost tat er im Oktober 2023 auf Facebook kund.

"Derzeit sieht es nicht danach aus, als habe die Dava ein Interesse daran, auch liberale und säkulare Menschen in ihren Reihen aufzunehmen", beobachtet der Experte. Man wisse aber nicht, ob sich die Gruppierung auf Anweisung oder Anregung von Erdogan gegründet habe.

Phänomen ist nicht neu

Bereits in der Vergangenheit habe es ähnliche Erscheinungen gegeben – etwa 2016 mit der ADD, der "Allianz Deutscher Demokraten", die sich vornehmlich an türkischstämmige und muslimische Einwanderer richtet. Auch die 2010 gegründete BIG-Partei ist eine überwiegend von Muslimen gegründete Partei, die sich für die Rechte von Migrantinnen und Migranten einsetzt.

"Erdogan hat die ADD unterstützt und hat in einigen Statements auf diese Partei hingewiesen und aufmerksam gemacht", erinnert der Experte. "Selbst, wenn sie sich auf Erdogans Anweisung hin gegründet haben sollte, bleibt die Frage: Warum fühlt sich Erdogan jetzt dazu veranlasst?", so Aydın.

Experte rät zu Gelassenheit

Erdogan sei vermutlich der Meinung, dass es in Deutschland ein Vakuum gibt und sich die Parteilandschaft in einem Umbruch befindet. "Derzeit beobachtet man mit der Werteunion und dem Bündnis Sahra Wagenknecht weitere Parteigründungen", merkt der Experte an.

Wie gross der Einfluss der Dava werden könnte, bleibt aus Sicht des Experten abzuwarten. Aydın rät dazu, dass Potenzial der Dava nicht zu überschätzen. "Diese Gruppe hat ein Mobilisierungspotenzial, wenn es um die türkischen Wahlen geht. Aber hier geht es ja um deutsche Wahlen", erinnert er.

Seiner Beobachtung zufolge seien die deutsch-türkischen Wählerinnen und Wähler bei den Wahlen sehr pragmatisch. "Wir sollten uns in Sachlichkeit und Nüchternheit üben, ein wenig abwarten und jetzt nicht gleich den Teufel an die Wand malen", meint er.

Über den Experten

  • Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler beim CATS – Centrum für angewandte Türkeistudien an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zu seinen Forschungsinteressen zählen Deutschland-Türkei- und EU-Türkei-Beziehungen, türkische Migration und Diaspora in Deutschland.

Verwendete Quellen


JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.