Anfeindungen, Verschwörungstheorien und Gerüchte: Beim Thema Flüchtlinge und Asylbewerber in den sozialen Medien mangelt es nicht an Polemik und Hass. Doch mit den Tatsachen haben die Aussagen oft wenig zu tun. Wir unterziehen oft gelesene Postings einem Faktencheck.
1. "Deutschland kann nicht die ganze Welt aufnehmen"
Derzeit sind auf der Welt so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr: Rund 60 Millionen Menschen wurden laut UNHCR aus ihrer Heimat vertrieben, die meisten von ihnen bleiben jedoch innerhalb ihres Landes. 2014 gab es insgesamt 20 Millionen grenzüberschreitende Flüchtlinge.
Mit jeweils mehr als 1,5 Millionen Menschen kamen in die Türkei und nach Pakistan weltweit die meisten Flüchtlinge, dahinter folgen Libanon, der Iran, Äthiopien und Jordanien. Entwicklungsregionen nehmen insgesamt 86 Prozent der globalen Flüchtlinge auf.
2. "Deutschland muss die meisten Flüchtlinge aufnehmen"
In Europa nimmt Deutschland in absoluten Zahlen tatsächlich die meisten Flüchtlinge auf. Gemessen an der Bevölkerungszahl werden andere Länder jedoch deutlich mehr belastet. Im vergangenen Jahr führte Schweden mit 7,2 Erstanträgen auf Asyl pro 1.000 Einwohner die Liste in Europa an. Dahinter folgte Ungarn mit 4,2 und Malta mit drei. In Deutschland lag die Quote nur bei 2,1.
2015 könnte sich dies ändern. Die Bundesregierung geht von bis zu 800.000 Flüchtlingen bis Jahresende aus. Relativ gesehen käme also auf 100 Einwohner in Deutschland ein Asylbewerber. Damit wäre die Bundesrepublik trotzdem nicht das "Flüchtlingsheim der Welt". Im Verhältnis zur Einwohnerzahl muss der Libanon die meisten Flüchtlinge bewältigen: 23,2 pro 100 Einwohner.
3. "Asylbewerber sind gar nicht wirklich bedroht"
Von den rund 200.000 Menschen, die bis Ende Juli 2015 erstmals in Deutschland Asyl beantragt haben, kommt fast jeder Vierte aus Syrien, teilt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit. Ihnen wird in den meisten Fällen Schutz gewährt. Das Gleiche gilt für Asylbewerber aus dem Irak und Eritrea. Insgesamt wird etwa jeder dritte Antrag auf Asyl positiv entschieden.
Asylbewerber aus den Balkanstaaten - zum Beispiel Kosovo, Albanien oder Serbien - werden in Teilen der Öffentlichkeit als "Wirtschaftsflüchtlinge" bezeichnet. Ihre Chancen auf Anerkennung von Asyl sind sehr gering: Nur zwischen 0,1 bis 0,3 Prozent der Anträge werden bewilligt.
Im November 2014 wurden Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina als sichere Herkunftsstaaten eingestuft. Antragsteller aus diesen Ländern können innerhalb von vier Wochen abgeschoben werden. Die umstrittenen Massnahmen zur Abschreckung von Asylbewerbern aus dem Westbalkan haben bereits erste Wirkung gezeigt, gab das BAMF bekannt. Allerdings gehört ein grosser Teil dieser Asylbewerber zu den Roma, die in ihren Herkunftsländern massiv diskriminiert werden.
4. "Aber die Flüchtlinge haben alle Handys, die können gar nicht arm sein"
Die meisten Flüchtlinge haben kaum mehr als ein kleines Bündel an Habseligkeiten bei sich, darunter ist oft ein Handy. In Afrika und im Nahen Osten boomt seit einigen Jahren der Handymarkt, die meisten sind sehr günstige oder gebrauchte Modelle.
Für die Menschen hält es die Verbindung zu ihren Angehörigen aufrecht. Gespräche per Internet sind oft billiger als mit dem Telefon. Zudem waren sie oft eine wichtige Hilfe bei der Organisation der Flucht.
5. "Asylbewerber wollen gar nicht arbeiten"
In den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland dürfen Asylbewerber und Geduldete gar nicht arbeiten. Danach haben sie schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. So dürfen sie einen Job nur dann übernehmen, wenn sich darauf kein Deutscher, EU-Bürger oder ein anerkannter Flüchtling beworben hat.
Viele Unternehmen würden dennoch gerne geeignete Asylbewerber einstellen. Denn dieses Jahr bleiben mehrere zehntausend Ausbildungsplätze unbesetzt, erklärte Eric Schweitzer, Präsident der Industrie- und Handelskammer, am Dienstagabend in den "Tagesthemen".
Für die Firmen ist die Einstellung von Asylbewerbern und Geduldeten sehr unsicher, da diese noch während der Ausbildung abgeschoben werden können. Schweitzer fordert deswegen eine Garantie für die Lehrzeit und zwei Jahre darüber hinaus.
6. "Asylbewerber bedrohen unseren Wohlstand"
Die grosse Zahl der Flüchtlinge verursacht natürlich auch Kosten. 2014 sollen es mehr als 2 Milliarden Euro gewesen sein, genaue Zahlen werden erst an diesem Donnerstag veröffentlicht. Für dieses Jahr gibt es unterschiedliche Prognosen. Die höchsten Schätzungen gehen von bis zu 10 Milliarden Euro an Ausgaben für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge aus.
Allerdings hat Deutschland derzeit so hohe Steuereinnahmen wie noch nie. 593 Milliarden Euro waren es 2014. "Wir können die Entwicklung bewältigen", stellte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) Ende August zum Thema Asylkosten klar.
Auf lange Sicht ist Deutschland ohnehin wegen des demographischen Wandels auf Zuwanderung angewiesen. Die geburtsstarken Jahrgänge der 1960er Jahre werden in den nächsten Jahren in Rente gehen. Da aber die nachfolgenden Generationen deutlich kleiner sind, werden ohne Zuwanderung weniger Arbeitnehmer in die Renten- und Sozialversicherungen einzahlen.
7. "Die Flüchtlinge werden vom Staat besser behandelt als die Deutschen"
Früher erhielt ein Asylbewerber in Deutschland durchschnittlich 225 Euro monatlich. Damit bekam er weniger, als es die staatliche Grundsicherung vorsieht. Das Bundesverfassungsgericht kippte 2012 diese Regelung mit der Begründung, dass ein Asylbewerber nicht unter dem Existenzminimum leben kann.
Seit dem 1. März 2015 erhalten erwachsene Asylbewerber 359 Euro im Monat. Davon werden 216 Euro für den "notwendigen Bedarf" wie Essen oder Kleidung kalkuliert. Dies kann auch als Sachleistungen ausgegeben werden. 143 Euro werden für "persönliche Bedürfnisse" bar ausgezahlt.
Zum Vergleich: Alleinstehende Hartz IV-Empfänger erhalten vom Staat monatlich 399 Euro. Erst nach 15 Monaten Aufenthalt stehen Asylbewerbern Leistungen auf Sozialhilfeniveau zu.
8. "Die wollen sich gar nicht integrieren"
Bei den Integrationskursen verzeichnete das BAMF im ersten Quartal 2015 einen neuen Höchststand. Mehr als 47.000 Menschen nahmen an einem solchen Kurs teil, ein grosser Teil von ihnen waren Schutzberechtigte aus dem Asylverfahren. Syrer stellten die grösste Gruppe der Kursteilnehmer.
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