Die Wirtschaft will langfristig von Flüchtlingen profitieren. Auf kurze Sicht wird es mehr Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger geben. Der Grund sind schlechte Sprachkenntnisse, mangelnde Qualifikation und die deutsche Bürokratie. Viele Unternehmen zeigen sich dennoch zuversichtlich.

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Der deutsche Arbeitsmarkt präsentiert sich derzeit in bester Verfassung. Im Oktober sank die Zahl der Erwerbslosen auf 2,649 Millionen (6,0 Prozent), das ist der niedrigste Stand seit 1991. Doch schon im kommenden Jahr könnte sich der Trend umkehren.

Nach einer Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg werden 2016 rund 130.000 neue Zuwanderer arbeitslos gemeldet sein. Ein grosser Anteil der bis zu eine Million Flüchtlinge, die bis Jahresende in Deutschland ankommen könnten, wird die nächsten Jahre zunächst von Hartz-IV-Leistungen leben müssen.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fand heraus, dass es in Europa durchschnittlich fünf bis sechs Jahre dauert, bis die Mehrheit der Flüchtlinge in Arbeit kommt.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, erklärte gegenüber "Welt Online": "Nach unseren Berechnungen erwirtschaftet ein Flüchtling nach fünf bis sieben Jahren mehr, als er den Staat kostet." Die Neuankömmlinge würden langfristig Einkommen schaffen, die Unternehmenserträge steigern und die Produktivität der Firmen erhöhen.

Sprache fördern, Qualifikation erfassen

Kurzfristig sind die Herausforderungen dagegen gewaltig. "Höchstens fünf Prozent der Asylbewerber können aufgrund ihrer sprachlichen und beruflichen Kenntnisse zeitnah in Ausbildung oder Arbeit integriert werden", erklärt Gerald Grusser, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Erfurt. Erfahrungen zeigen, dass 90 Prozent nach zwei Jahren immer noch arbeitslos sind. Obwohl der Bedarf gross ist: Allein in der Gastronomie sind deutschlandweit derzeit rund 7.000 Lehrstellen unbesetzt, 40.000 waren es branchenübergreifend im Jahr 2014. Tendenz steigend.

Theoretisch können Asylbewerber und Geduldete drei Monate nach ihrem Antrag eine Arbeit aufnehmen. Warum gelingt das nur wenigen? Die Ursachen dafür sind vielschichtig.

Zum einen haben bis zu 80 Prozent der Flüchtlinge laut Bundesagentur für Arbeit keinen Berufs- oder Schulabschluss, der deutschen Standards genügt. Ein weiteres Problem sind mangelnde Sprachkenntnisse. Selbst Asylbewerber, die über eine gute Bleibeperspektive verfügen, haben erst nach Abschluss ihres monatelangen Verfahrens Anspruch auf einen Deutschkurs.

Und schliesslich werden bei der Registrierung nach der Einreise Sprach- und Berufsqualifikation gar nicht erfasst. Für die Wirtschaft sei es aber wichtig, "schnell Klarheit zu bekommen, welche Kompetenzen und Fähigkeiten Flüchtlinge mitbringen, um erforderliche Nachqualifizierungen anbieten zu können", erläutert Gerald Grusser.

Dass Asylbewerber keine Zeitarbeit aufnehmen dürfen und eine Altersbegrenzung von 21 Jahren für eine Ausbildung besteht, mindert die Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zusätzlich. Zudem ist es für viele Unternehmen ein grosses Risiko, einen Arbeitnehmer mit unklarer Bleibeperspektive einzustellen, selbst wenn er hoch motiviert und gut qualifiziert sein sollte.

"Angesichts der demografischen Entwicklung und der Fachkräftelücke sind für die Unternehmen aber auch unter den Flüchtlingen durchaus Potenziale vorhanden", zeigt sich Grusser dennoch verhalten optimistisch. Eine Antwort auf den Fachkräftemangel seien die meisten mit ihrem derzeitigen Qualifikationsstand aber noch nicht.

Wirtschaft zeigt Eigeninitiative

Damit sich das ändert, entscheiden sich viele Wirtschafts- und Interessenverbände für eigeninitiatives Handeln – wie die bayerischen Industrie- und Handelskammern. Sie verpflichten sich mit anderen Organisationen der Wirtschaft, 20.000 Flüchtlingen bis Ende 2016 einen Praktikums-, Ausbildungs- oder Arbeitsplatz anzubieten.

Das Ziel ist es, bis Ende 2019 60.000 Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. "Die Vereinbarung ist die richtige Antwort auf den grossen Flüchtlingszustrom. Mit dieser nachhaltigen Initiative werden wir Bayern stärken", teilte BIHK-Präsident Eberhard Sasse in einer Erklärung mit.

Allein im Freistaat gibt es bis 2020 eine Lücke von 230.000 Fachkräften. Weil die Firmen sie nur zu höchstens zehn Prozent mit Unqualifizierten schliessen können, ist es umso wichtiger mehr Flüchtlingen eine Berufsausbildung zu ermöglichen.

In Thüringen, wo es relativ wenig Erfahrungen mit Migranten gibt, erklärten sich in einer aktuellen Umfrage unter 1.000 Unternehmen 74 Prozent bereit, Flüchtlinge als Arbeitskräfte einzusetzen. Bei Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern stieg die Quote sogar auf 97 Prozent. Für IHK-Chef Grusser ist klar: "Es gibt keine bessere Integration als die über den Beruf".

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